Die Komponistin und Musikpädagogin starb 88-jährig in Augsburg


Am 7. April 2005 verstarb in Friedberg bei Augsburg unser längjähriges, um die Werkgemeinschaft hochverdientes Mitglied Prof. Erna Woll. Sie war nicht nur eine besonders geschätzte und erfolgreiche Musikpädagogin, die nach Jahren schulischer Praxis auch an der später in die Universität integrierten Pädagogischen Hochschule Augsburg lehrend, forschend und - als Gründerin und Leiterin des Hochschulchores - künstlerisch sehr aktiv und erfolgreich tätig wurde, sondern wurde mit insgesamt mehr als 220 teilweise großformatigen Kompositionen vor allem die bedeutendste Chorkomponistin des 20. Jahrhunderts.

Geboren 1917 in St. Ingbert an der Saar, erwarb sie sich ihr hohes musikalisches und musikpädagogisches Können und Wissen durch ebenso intensive wie vielseitige, oft "erhungerte" wissenschaftliche und künstlerische Studien. Sie begannen 1936 in Heidelberg mit einer Ausbildung zur evangelischen Kirchenmusikerin, wobei der junge Wolfgang Fortner ihr Tonsatzlehrer war. Nach dem dortigen Diplomabschluss und einer vorübergehenden Kantorinnen-Tätigkeit im badischen Rheinfelden, während derer sie sich am Baseler Konservatorium noch pianistisch weiterbildete, schloss sie ab 1940 an der Münchener Musikhochschule ein Kompositionsstudium (u.a. bei Joseph Haas) sowie das Studium der Katholischen Kirchenmusik (u.a. bei Li Stadelmann in Klavier und E. Gatscher in Orgel) und ein Schulmusikstudium an. Während dieses Studiums konvertierte sie 1941 vom Protestantismus zum Katholizismus - eine Grundlage dafür, dass sie immer eine überzeugte Oekumenikerin blieb. Ab 1944 absolvierte sie außerdem an den Universitäten München und Würzburg ein Germanistikstudium, das sie 1949 an der Universität Heidelberg mit dem Staatsexamen abschloss. Inzwischen hatte sie an der Kölner Musikhochschule mit glänzendem Erfolg auch noch das Studium der katholischen Kirchenmusik abgeschlossen - bei Heinrich Lemacher in Komposition, bei dem späteren Kölner Domorganisten Josef Zimmermann in Orgel, bei Franz Tack in Gregorianik, beim Aachener Domkapellmeister Theodor Bernhard Rehmann in Chorleitung - und es noch durch ein privates Orgelstudium beim vormaligen Trierer Domorganisten, führenden Kirchenmusikkomponisten und gerühmten Improvisator Hermann Schroeder erweitert.

Nach Tätigkeiten als Organistin in Köln-Bayenthal, einem Lehrauftrag am Kirchenmusikinstitut in Speyer mit parallelem Orgeldienst und Chorleitertätigkeit sowie dem Referendariat für das Lehramt an höheren Schulen in München unterrichtete sie ab Herbst 1950 in Weißenhorn bei Ulm an der katholischen Lehrerinnen-Bildungsanstalt und Oberschule, später in "Deutsches Gymnasium Weißenhorn" umbenannt. Hier wurde die Direktorin - ihre spätere enge Freundin Dr. Mathilde Hoechstetter, die ihrerseits befreundet war mit der Dichterin Gertrud von le Fort - zur stärksten Anregerin ihres schnell wachsenden kompositorischen Schaffens. Mit ihrem neu gegründeten Instituts-Chor sang sie schon bald u.a. ihre frühe bedeutende, später auch von verschiedenen renommierten Chören - darunter 1980 das Pariser Ensemble Vocal "Beatrice de Dia" - gesungene und von mehreren Rundfunkanstalten aufgenommene und gesendete Frauenchor-Messe in E, ferner ihre Frauenchöre nach Texten von Ruth Schaumann, ihre profanen Kantaten "Der Gänsehirt", die "Apfelkantate" und "Mohn, roter Mohn" sowie ihre Frauenchor-Zyklen "Lass den Stern mich finden", "Sieben Marienlieder nach altdeutschen Texten", "Lieder singen in dir" und "Zauber und Segen" (nach Werner Bergengruen).

1962 folgte Erna Woll einem Ruf als Dozentin (seit 1969 Honorarprofessorin) an die neugegründete Pädagogische Hochschulein Augsburg. Im Festgottesdienst anläßlich der Einweihung des Hochschul-Neubaus brachte sie 1963 mit Chor und Orchester ihr Messproprium "Spiritus Domini" zur Uraufführung. Später folgten u.a. die Kantate "Singen auf Hoffnung hin", das deutsche Ordinarium "Wir loben dich" und  ihr bedeutender Chorzyklus "Sieben Leben möcht ich haben".

Ferner entstanden in dieser Augsburger Zeit für gemischten Chor u.a. die teilweise preisgekrönten wichtigen Zyklen "Süßes Saitenspiel" (mit Solo-Tenor) und "Töne, Lied meiner Flöte" - beide für den vorzüglichen Dülkener Kammerchor geschaffen, der auch die Uraufführungen sang - sowie "Zeit, o Verkündigung".

1972 erzwang eine schwere Erkrankung ihren Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand. Erst nach ihrer langwierigen Genesung konnte sie ihr kompositorisches Schaffen wieder aufnehmen und lebte fortan als freischaffende Komponistin in Augsburg. Nun entstanden neben mehreren Orgelstücken - u.a. dem auch bei ihren Exequien gespielten "Orgel Triptychon", den "Anrufungen", einem Versettenzyklus, drei Miniaturen und dem Stück "Nachsinnen" für Flöte und Orgel - weiterhin gewichtige Chorkompostionen, darunter die Frauenchorzyklen "Erde, schönster Stern", "Sing, immer sing", das Chor-Rondel "Wie man singt und saget" und die Biblischen Skizzen "Frauen um Jesus"; sodann für gemischte Stimmen ihr "Lobgesang", das "Requiem für Lebende" für Chor und Instrumente, die Chorzyklen "Tröstet die Finsternis" und "O faltet die Flügel" (G. v. Le Fort), zwei Motetten nach Texten von Cordelia Spaemann: "Eine Grenze haben sie gezogen" und "Engelballade", ein "Babel-Kyrie", das Chorstück "Der Mensch" (Text. von Matth. Claudius), ein Psalm-Tiptychon und die Vertonung des 80. Psalms, außerdem auch ihre sieben Gesänge für den orthodoxen Gottesdienst für Vorsänger und Männerchor a cappella.

Aufgrund solcher Erfolge wurde ihr Schaffen allmählich auch andernorts durch Aufführungen, durch Notenpublikationen bei insgesamt mehr als 30 Verlagen, Rundfunksendungen und Schallplatten-Editionen so weiträumig bekannt, dass bald besonders ehrenvolle Kompositionsaufträge folgten. Dazu gehörte zunächst der Auftrag des Evangelischen Stadtdekanats Augsburg zur Komposition eines Werkes für die Feierlichkeiten anlässlich von Martin Luthers 500. Geburtstag 1983, umgesetzt durch die Kantate "Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat" für Solo, gemischten Chor, Sprecher, Streicher, Bläser und Schlagzeug nach Luthers Credo-Auslegung. Ein Jahr später fand ein Auftragswerk der Stadt Augsburg seine Uraufführung: das zur 2000-Jahrfeier Augsburgs 1984 komponierte "Augsburger Kyrie" für gem. Chor a cappella.

Mit insgesamt sechs Kompositionspreisen wurde die Komponistin gewürdigt. In den Neunziger Jahren kamen noch zwei besondere Auszeichnungen hinzu: 1993 ehrte man sie, ihr Wirken und ihr kompositorisches Werk mit dem päpstlichen Ehrenkreuz  "Pro Ecclesia et Pontifice" und 1997 anlässlich ihres 80. Geburtstages durch Verleihung des Bundesverdienstkreuzes.

Auch in der Werkgemeinschaft Musik genoss Erna Woll hohes Ansehen, denn die Werkgemeinschaft hatte ihr als einer ihrer aktiven und kreativen Referentinnen und Tagungsteilnehmerinnen wie eben auch als begnadeter Lied- und Chorkomponistin viel zu verdanken. Ihr dafür Dank abzustatten versuchten vor allem Ensembleleiter der Werkgemeinschaft u.a. immer wieder durch Aufführungen und Uraufführungen, durch Funkaufnahmen und Platteneinspielungen ihrer Werke.

So bestritt etwa Prof. Fritz Schieri, späterer langjähriger Präsident der Münchener Musikhochschule sowie Führungskreis- und Vorstandsmitglied der Werkgemeinschaft wie auch mehrere Jahre ihr Vorsitzender, der auch einige Werke von Erna Woll ediert hat, mit dem hervorragenden Kammerchor der Münchener Musikhochschule 1976 auf einer Tagung der Katholischen Akademie München u.a. die Uraufführung der 1970/71 entstandenen ersten beiden ihrer Motetten "Tröstet die Finsternis", die sie zum 100. Geburtstag der Lyrikerin Gertrud von le Fort geschaffen hatte.

Und Prof. Karl Berg, Trier, ebenso längjährig in den gleichen Funktionen wie Schieri in der Werkgemeinschaft aktiv, führte nicht nur - wie Schieri ebenfalls - auf manchen seiner jährlichen Musikwochen u.a. Chorkompositionen Erna Wolls auf, sondern sang und spielte zwischen 1971 und 1986 mit verschiedenen seiner qualifizierten Vokal- und Instrumentensembles auch eine ganze Reihe ihrer geistlichen Lieder und Liedsätze für nicht weniger als neun Schallplatten- bzw. Audiokassetten-Produktionen ein.

Auch der Unterzeichnete konnte 1976 mit seinem damaligen Neusser Hochschulchor ihre kurz zuvor mit dem Ersten Preis im Kompositionswettbewerb des Deutschen Allgemeinen Sängerbundes ausgezeichnete "Ballade vom Clown" für Frauenchor, komponiert nach einem hintergründigen Text des vor wenigen Jahren verstorbenen bedeutenden geistlichen Lyrikers Wilhelm Willms, mit aus der Taufe heben und für den Südwestfunk einsingen. Darüber hinaus steuerte er - wie zugleich Fritz Schieri - einen größeren Beitrag zur Monographie "Komponisten in Bayern: Erna Woll" bei, die 1987 im Auftrag des Landesverbandes Bayerischer Tonkünstler anlässlich ihres 70. Geburtstags im Verlag Hans Schneider, Tutzing erschien, und veröffentlichte außerdem 1997 zusammen mit Günther Grünsteudel in der Zeitschrift "UniPress" der Universität Augsburg einen würdigenden Artikel anlässlich ihres 80. Geburtstages. Grünsteudel, Bibliothekar der Universität Augsburg, die - wie auch die Bayerische Staatsbibliothek München - die gesamten verlegten Werke Wolls, darüber hinaus aber auch große Teile des handschriftlichen Nachlasses und des Briefwechsels, zahlreiche Tondokumente sowie Zeugnisse zur Werkrezeption (Programmzettel, Rezensionen u.a.) aufbewahrt - ist auch Autor ihres 1996 im Augsburger Verlag Dr. Bernd Wißner als Buch publizierten Werkverzeichnisses, das von ihm auf der Basis dieser Materialien sowie akribischer Recherchen und in enger Zusammenarbeit mit der Komponistin erstellt wurde.

Nach Erna Wolls 70. Geburtstag ehrte die Werkgemeinschaft ihr Mitglied noch auf andere Weise: Im Rahmen einer Jahrestagung wurde ihr Anfang Januar 1989 die Gelegenheit geboten, mit Klangzeugnissen aus ihrem weitgespannten Schaffen und im kommentierenden Gespräch ihr eigenes Lebens- und Komponistenporträt entstehen zu lassen - eine für alle Beteiligten unvergessliche Begegnung mit dieser bedeutenden Frau und Komponistin.

Und natürlich durfte 1997 auf der ausschließlich mit Werken von Komponisten der Werkgemeinschaft gestalteten Jubiläumstagung "50 Jahre Werkgemeinschaft Musik" in Altenberg auch ihre Musik nicht fehlen: Prof. Dr. Wolfgang Bretschneider, Bonn -ebenfalls langjähriges Führungskreis- und Vorstandsmitglied der Werkgemeinschaft - spielte vor Beginn des Festhochamtes auf der großen Domorgel Altenberg ihr 1993 entstandenes "Orgelmosaik" mit dem Titel "Vorübergang", das dementsprechend auch am Anfang der Tondokumentation dieses Jubiläums steht.

Bei der musikerfüllten Augsburger Trauerfeier zum Gedenken Erna Wolls, die im Anschluss an die feierlichen Exequien in St. Elisabeth auch in Anwesenheit mehrerer Augsburger Mitglieder der Werkgemeinschaft stattfand und bei der ihre sechs frühen "Lieder der Liebe" für Bariton und Klavier nach Texten von Ruth Schaumann in eindrucksvoller Interpretation im Mittelpunkt standen, durfte der Unterzeichnete schließlich Leben und Werk der Verstorbenen würdigen und dabei u.a. auch die Perspektive der Werkgemeinschaft berücksichtigen.

Ihre letzte Ruhestätte fand Erna Woll am 27. Mai 2005 in einem  Ehrengrab ihrer Heimatstadt St. Ingbert auf dem Alten Friedhof der Stadt.

Wilhelm Schepping