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Referat im Haus Altenberg
am 4.1.1998
von PROF. DR. ALBRECHT GOEBEL

I


Wer sich mit Felix Mendelssohn-Bartholdy (3.2.1809 - 4.11.1847) befaßt, kann auf eine im Umfang geradezu gewaltige Literatur zurückgreifen. Sie enthält eine Fülle von Aspekten und beleuchtet so gut wie alle nur denkbaren Fragen an Person und Schaffen dieses romantischen Meisters.

Grundsätzlich läßt sich die Fachliteratur in zwei Abteilungen gliedern: in die biographische und die schaffensbezogene Literatur. Wer nach Schwerpunkten dieser beiden übergeordneten Abteilungen fragt, sich also ein Bild von den derzeit dominierenden Tendenzen der Mendelssohn-Diskussion machen möchte, kann folgenden Eindruck gewinnen: Bezogen auf den biographischen Bereich fällt auf, daß der Bezugsrahmen äußerst unterschiedlich ist. Die biographischen Arbeiten dürfen in ihrer Mehrzahl als chronologische Lebensbeschreibungen bezeichnet werden. Stellvertretend für zahlreiche Bücher dieser Art sei die kürzlich erschienene Studie von Arnd Richter (s. u.) erwähnt. Sie zeichnet Mendelssohns Lebensweg gewissermaßen von Jahr zu Jahr nach und bildet Schwerpunkte, so bei seiner Jugendzeit in Hamburg und Berlin sowie seinen Düsseldorfer und Leipziger Jahren. Ergänzt werden die Ausführungen - neben kurzen Angaben zu Mendelssohns Kompositionsstil - durch eine Reihe von Dokumenten, die das Verhältnis anderer bedeutender Komponisten zu diesem Meister beleuchten, so etwa die Position Richard Wagners.

Angesichts der gewaltigen Zahl biographischer Dokumente, die zu Mendelssohn überliefert sind, ist gerade die Auswahl aufschlußreich. Während Richter die Dokumente nicht zuletzt unter dem Aspekt der öffentlichen Wirkung von Mendelssohns Schaffen auswählt, die Musik durch das Zitat widerstreitender Meinungen und Wertungen beleuchtet, tragen andere Biographen eher persönlich-familiäre Dokumente zusammen. Ein entsprechendes Beispiel stellen etwa die Biographien von Hans Christoph Worbs und Wulf Konolds dar.

Insgesamt betrachtet läßt sich feststellen, daß jüngere Biographien gerade bei der Auswahl von Dokumenten eine Art Politisierung zu erkennen geben, z. B. die Bedeutung der Stein'schen Reformen für Mendelssohn ausloten oder etwa am Beispiel der Auseinandersetzung um das an Mendelssohn-Denkmal im Jahr 1938 den Komplex "Mendelssohn und das Dritte Reich" dokumentarisch aufarbeiten . Neben biographischen Studien dieser Art stehen verschiedene Publikationen, die den Komponisten als Mitglied einer prominenten jüdischen, zugleich weitverzweigten Familie darstellen. Felix Mendelssohn liefert hier gleichsam den Anlaß, sich der gesamten Familie und ihrem Schicksal seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu widmen. Derartige Werke, für die Eckart Kleßmanns Bild-Biographie ein Beispiel ist, befassen sich schwerpunktmäßig mit den beiden Generationen vor Felix Mendelssohn, also mit seinem Großvater Moses, dem Lessing-Freund und bekannten Berliner Philosophen der Aufklärung, sowie seinem Vater Abraham, dem Mitinhaber des Hamburg-Berliner Bankhauses Mendelssohn. Als letzter prominenter Künstler der Familie wird zuweilen Arnold Mendelssohn in die Darstellung einbezogen, der Darmstädter Komponist und Herausgeber Alter Musik, der bis 1933 lebte.

Einen neuen, feministischen Akzent erhielt die biographische Literatur über die Familie Mendelssohn während der letzten Jahre. Etwa die Autorinnen Fransoise Tillard oder Eva Weissweiler befaßten sich mit Fanny Hensel, Felix' Lieblingsschwester. Entsprechende Studien beleuchten Fannys Tätigkeit als Organisatorin der renommierten "Sonntagsmusiken" in Berlin - sie fanden seit 1822 statt - sowie ihren Versuch, sich als Komponistin gegenüber Felix zu behaupten, ein Wunsch, der am Rollend en ken ihrer Zeit scheiterte. Eine meines Erachtens vorzügliche Studie zu diesem Aspekt stellt der von Hans-Günter Klein erarbeitete Katalog dar, der im Zusammenhang mit einer im Juli 1907 durchgeführten Berliner Ausstellung zum Thema "Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny" erschien.

Eine bemerkenswerte Unterabteilung der Mendelssohn-Biographik stellt schließlich ein Teil der Literatur über die Familie Schlegel dar, speziell über Dorothea Schlegel (1764 - 1839), also jene Tante Mendelssohns, die in zweiter Ehe mit dem Philosophen und Literaturkritiker Friedrich Schlegel (1772 - 1829) verheiratet war, in Wien einen der zeittypischen literarischen Salons unterhielt und vom jüdischen zum katholischen Glauben wechselte. Gerade an Dorothea Schlegel zeigt sich das in der Familie Mendelssohn ausgeprägte Interesse an religiösen Fragen, ein Thema, das auch Felix Mendelssohn intensiv beschäftigte, nachdem sein Vater ihn 1816 hatte evangelisch taufen lassen. Zugleich steht Dorothea Schlegel, wie etwa Carola Stern darlegt, für die Assimilierung des deutschen Judentums während der Stein'schen Reformen. Sie geht auf jenem Weg voran, den ihr Neffe Felix eine Generation später ebenfalls beschreitet und der ihn in hohe Positionen des öffentlichen Musiklebens führt.

Die Gründe, aus denen Mendelssohn und seine Familie so große biographische Aufmerksamkeit finden, hängen nicht nur mit der tatsächlich bewundernswerten Kultur und dem Begabungsreichtum dieser Familie zusammen, sondern auch mit der Bedeutung, die der familiäre Umkreis für Mendelssohns Wirken als Komponist lebenslang hatte. Die Tatsache, daß seine Eltern rege am zeitgenössischen Musikleben teilnahmen, das Interesse Fannys und Felix' an Alter Musik, speziell an jener Johann Sebastian Bachs, förderten und sich als eine Art musikästhetisches Gewissen des bald berühmten Felix erwiesen, hat die Familie folgerichtig zu einem wichtigen Aspekt der Mendelssohn-Forschung werden lassen. Es gibt wohl kaum einen anderen führenden deutschen Komponisten, der besser ausgebildet, kenntnisreicher und reflektierter an seine Arbeit gegangen wäre als Mendelssohn. Die musikalischen Erfahrungen seiner Jugendzeit im Berliner Elternhaus sowie in der Singakademie haben dazu beigetragen und machen es verständlich, daß biographische Fragen bis heute breiten Raum in der Mendelssohn-Diskussion beanspruchen.

Fassen wir schon hier einmal zusammen, so läßt sich feststellen, daß die biographische Literatur folgende Schwerpunkte aufweist: Sie zeichnet auf herkömmliche, d. h. chronologische Weise den Lebenslauf nach und wendet sich des weiteren Mendelssohns Familie zu, hier insbesondere Moses und Fanny Mendelssohn bzw. Hensel; schließlich verfolgt sie Felix Mendelssohns Wirkungsgeschichte durch verschiedene historische Zeiträume, darunter als ein Schwerpunkt das Dritte Reich. Die Breite der biographischen Literatur dürfte grundsätzlich mit dem Gewicht zusammenhängen, das biographische Umstände für Mendelssohns kompositorisches Schaffen besitzen.

II


Wenden wir uns nun den wesentlichen Aspekten zu, unter denen Mendelssohns kompositorisches Schaffen untersucht wird; was sind vorherrschende Diskussionspunkte bei der Betrachtung seiner Musik?

Zu den wichtigen Aspekten des wissenschaftlichen Diskurses gehört Mendelssohns Verhältnis zur Musik der Barockzeit, speziell zu jener Johann Sebastian Bachs.

In zahlreichen Studien, so Arbeiten von Clostermann, Dahlhaus, Grossmann-Vendrey oder Werner, werden Mendelssohns Kompositionen nach Einwirkungen der Barockmusik befragt. Die Tatsache, daß um 1800 für das musikliebende deutsche Bildungsbürgertum die so gut wie vergessene Musik des Barock wieder an Aktualität gewann und zum Bildungsgut wurde, wirkte nach der gleichlautenden Ansicht verschiedener Forscher stark auf Mendelssohns künstlerisches Bewußtsein ein. Vor allem Carl Friedrich Zelter, der Leiter der Berliner Singakademie (s. o.), hielt das Andenken an Bach in den „Freitagsmusiken" wach und führte die Berliner Musikfreunde, darunter auch die Familie Mendelssohn, in Bachs musikalische Welt ein. In Verbindung mit Gedanken, wie sie von Justus Thibaut, dem angesehenen romantischen Musikästhetiker, geäußert und in musikalischen Kreisen kolportiert wurden, entwickelte sich Alte Musik für Mendelssohn zu einem der Pole, die kraftvoll auf sein Schaffen einwirkten, wenngleich er stets zu verhindern suchte, Bachs Musik zu kopieren. Vor allem auf dem Feld der geistlichen Musik war - so die Fachliteratur - Bach eine Art geistiger Übervater Mendelssohns, er gab ihm die künstlerische Leitlinie vor.

Mit der Orientierung an Bach war zugleich ein heftiger künstlerischer Konflikt verbunden: der Widerstreit zwischen historischem Vorbild und individuellem, d.h. romantischem Ausdruckstreben. Typisch für diesen Konflikt ist der Brief, den Mendelssohn am 13. Juli 1831 an Eduard Devrient, den langjährigen Freund und Mitstreiter bei der Wiederaufführung der "Matthäus Passion" im Jahr 1829, aus Italien schrieb; hier heißt es:

"Und daß ich grade jetzt mehrere geistliche Musiken geschrieben habe, das ist mir ebenso Bedürfnis gewesen, wie 's einen manchmal treibt, grade ein bestimmtes Buch... zu lesen... . Hat es Aehnlichkeit mit Seb. Bach, so kann ich wieder nichts dafür; denn ich habe es geschrieben, wie es mir zu Muthe war, und wenn mir einmal bei den Worten so zu Muthe geworden ist, wie dem alten Bach, so soll es mir um so lieber sein. Denn du wirst nicht meinen, daß ich seine Formen copire... da könnte ich vor Widerwillen und Leerheit kein Stück zu Ende schreiben."1

Neben der historisierenden Komponente von Mendelssohns Stil schält sich als weiterer Schwerpunkt der Fachdiskussion seit einiger Zeit die Frage heraus, welche Bedeutung speziell das Schaffen Carl Philipp Emanuel Bachs (1714 1788) auf Mendelssohn hatte.

Es gehört, nach allem was wir wissen, zu den Berliner Eigentümlichkeiten nach 1800, daß sich manche Kompositionen des ehemaligen Kammer Cembalisten Friedrichs des Großen immer noch lebhafter Zustimmung erfreuten. Vor allem die Klavier-Phantasien und die Sinfonien boten eine Mischung aus alten und neuen Stileigentümlichkeiten, wobei die neuen Merkmale, also die empfindsam-phantasievolle Seite der Musik des Bach-Sohns, die romantischen Erwartungen des Publikums der Jahre nach 1800 zu erfüllen schien. Carl Philipp Emanuel Bach zeigte Mendelssohn, wie sich - so Peter Rummenhöller - Phantasie und strenge Satzweise verbinden ließen. Schon Mendelssohns frühe Streicher-Sinfonien scheinen dieser Haltung des Bach-Sohns verpflichtet; vor allem die sechste und siebte Streicher Sinfonie bändigen romantischen Überschwang durch den Einbezug polyphoner Elemente und scheinen zugleich eine frühe Übung Mendelssohns für die polyphonen Passagen seiner späteren großen Sinfonien darzustellen.

Die dritte häufig gestellte Frage innerhalb der aktuellen Mendelssohn-Diskussion befaßt sich mit dem eigentümlichen Wohlklang der Musik dieses Romantikers. In der Tat ist Mendelssohns Tonsprache ungemein konsonant, tief melodiös und lyrisch, mitunter auch glatt und elegant; harmonische Schärfe, dynamische Wucht und Gegensätzlichkeit bleiben die Ausnahme. Rhythmisch ist sie leichtfüßig, quirlig, "elfenhaft leicht" , wie es in einem Lexikon heißt, und in formaler Hinsicht steht sie überwiegend im Zeichen der Symmetrie. Während etwa Beethovens oder Mahlers Musik mitunter gleichsam zu bersten scheint und ihren hohen künstlerischen Rang gerade aus ihren inneren Gegensätzen gewinnt, ist Mendelssohns Musik über weite Strecken ein Muster an innerer wie äußerer Harmonie.

Ist dies nicht - so die entsprechende Fachdiskussion - als eine gewichtige künstlerische Schwäche zu bewerten?

Ist Mendelssohns Tonsprache nicht zu schön und damit in Gefahr, äußerlich zu wirken?

Kann andererseits eine Musik, die gerade durch die Übereinstimmung von Struktur und Ausdruck so fesselt, überhaupt äußerlich leer sein? Mendelssohns Musik gerät also in der Fachdiskussion zu einem ästhetischen Streitfall, es gibt - so Carl Dahlhaus den "Fall Mendelssohn", der - wie nicht vergessen sei - über Mendelssohn-spezifisches hinausreicht und dazu auffordert, sich auf tragfähige ästhetische Kriterien zu besinnen

Anders formuliert: Mendelssohns Musik veranlaßt nicht nur zu der Frage, ob sie nicht zu wohllautend sei; der Versuch, diese Frage zu beantworten, führt auch auf das weite, strittige Feld wohlgegründeter Wertkriterien in der Musik.

Eine weitere, hier an vierter Stelle genannte Kernfrage zu Mendelssohns Schaffen betrifft die Bedeutung, die Mendelssohns häuslicher Musikunterricht für sein Komponieren besaß. Diese in der Fachliteratur mittlerweile breit erörterte Frage erscheint selbstverständlich, da Abraham und Lea Mendelssohn die Lehrer ihrer Kinder mit großer Sorgfalt auswählten. So bekam, wie am Rande angemerkt sei, Felix als Latein-Lehrer keinen geringeren als den klassischen Philologen und späteren Universitätsprofessor Karl Wilhelm Ludwig Heyse, unter dessen Anleitung Mendelssohns Sprachkenntnisse so vorzüglich gediehen, daß er 1825, also mit nur 16 Jahren, eine Komödie des Terenz ohne Hilfe ins Deutsche übersetzte und dabei das antike Versmaß im Deutschen nachbildete.

Die Bemühungen der Eltern um rangvolle, gewissenhafte Lehrer belegt auch Samuel Rösel, ein Professor der Berliner Bauakademie, der als Zeichenlehrer im Hause Mendelssohn wirkte und dazu beitrug, daß Felix' zeichnerische Begabung sich entfaltete.

Zum Musiklehrer ihres Sohnes und ihrer Tochter Fanny bestellten die Eltern zunächst Carl Friedrich Zelter (1758 - 1832), bekanntlich jahrzehntelang die überragende Berliner Musikautorität; er fungierte als Theorielehrer und führte Fanny und ihren Bruder in den Kontrapunkt ein. Insofern hatte er - wie oben bereits erwähnt - wesentIichen Anteil an dem Prozeß, Felix für die Alte Musik aufzuschließen.

Von großer Bedeutung war freilich auch der ganz anders eingestellte Ludwig Berger, der von 1777 bis 1839 lebte und Mendelssohn sowie seiner Schwester seit 1816 Klavierunterricht erteilte. Berger war, um ihn kurz vorzustellen, 1804 seinem Klavierlehrer Muzio Clementi nach St. Petersburg gefolgt und freundete sich dort mit den Klaviervirtuosen und Komponisten Alexander Klengel und John Field an. 1812 verließ er Rußland wieder und folgte seinem Mentor Clementi nach London. Drei Jahre später ließ er sich dann in Berlin nieder und wurde zu einem gesuchten Klavier- und Musiklehrer. Im Mittelpunkt seines kompositorischen Schaffens steht, wie Dieter Siebenkäs darlegt, virtuose Klaviermusik; ihr galt seine besondere Liebe.

So stieß der junge Mendelssohn gerade in Berger auf einen Exponenten der romantisch-virtuosen Klaviermusik, die das ganze 19. Jahrhundert musikalisch mitprägte, die bis zur Jahrhundertmitte von Persönlichkeiten wie Cramer, Field, Herz, Hiller, Hummel, Kalkbrenner, Moscheles, Thalberg oder Weber bestimmt wurde und - in Teilen seines Werkes auch Liszt einschloß. Berger schrieb, wie wir heute formulieren, virtuose "Salonmusik" und befand sich dabei in Übereinstimmung mit dem Geschmack eines breiten Publikums. Wer glaubt, im Mittelpunkt des häuslichen und außerhäuslichen Musizierens hätten nur - aus heutiger Sicht - Spitzenwerke der romantischen Klaviermusik á la Chopin oder Schumann gestanden, der irrt und übersieht ganz die Vorrangstellung solcher Meister, die heute als romantische Kleinmeister gelten. Mendelssohn wuchs durchaus in diese Tradition hinein, war sich auch bald des Salontons dieser Musik bewußt, pflegte sie aber als Kind seiner Zeit durchaus.

Im abschließenden Teil meines Referates, der sich aus verschiedenen Hörbeispielen zusammensetzt, werde ich gleich versuchen, auch Musik der genannten Salonkomponisten zu Gehör zu bringen und sie mit Klavierstücken Mendelssohns zu vergleichen. Gerade Ludwig Bergers Klavierunterricht dürfte Mendelssohns Sinn für Virtuosität und Eleganz gefördert haben. In der Regel beschränken Fachleute die virtuose Komponente von Mendelssohns Stil auf seine Klaviermusik, auf die virtuos gehaltenen "Lieder ohne Worte" oder andere Charakterstücke. doch schlägt sich die Freude an virtuosem hatte er und Laufwerk nicht auch in sinfonischen Kompositionen wie der "Italienischen Sinfonie" oder dem berühmten Violinkonzert op. 64 nieder, hier freilich nicht zu Lasten des künstlerischen Ranges?

Wenden wir uns dem fünften, mitunter diskutierten Aspekt zu, Mendelssohns "Klassizismus".

Gerade mit Blick auf die Sinfonie gilt der romantische Meister manchen Autoren als typischer "Klassizist". Führten Haydn, Mozart und Beethoven - so der Tenor entsprechender Darstellungen - die Sinfonie zu klassischer Höhe, so setzten Mendelssohn, Schumann und Brahms diese Tradition fort. Im Falle Mendelssohns zeige sich diese Tradition besonders in formaler, instrumentatorischer und thematischer Hinsicht. Mendelssohns Umgang mit Motiv und Thema scheine dem Vorbild klassischer Meister nachgestaltet, ohne freilich die prinzipielle Gesanglichkeit der Themen anzutasten und damit den unverwechselbaren lyrischen Tonfall seiner Musik zu überdecken.

Zu den Stiefkindern der Fachdiskussion über Mendelssohns Schaffen gehört, wie abschließend angemerkt sei, eigentümlicherweise der Bereich seiner Liedkomposition. Obgleich der Berliner Meister zahlreiche Solo- und Chorlieder hinterließ, scheinen sie, was das wissenschaftliche Interesse a.n ihnen anbelangt, keine Chance im Vergleich mit Werken wie dem "Elias", der Musik zum "Sommernachtstraum", dem Oktett op. 20 oder dem schon erwähnten Violinkonzert op. 64 zu haben. Dies ist um so bedauerlicher, als gerade Mendelssohns Lieder auf begrenztem Raum, im Rahmen der "kleinen Form", jene stilistische Vielschichtigkeit aufweisen, die typisch für sein Schaffen insgesamt scheint und die das zentrale Thema der Fachdiskussion darstellt. Sollte die Zeit reichen, möchte ich daher im nachfolgenden "klingenden" Teil meines Referates auch einige Lieder aufgreifen und ihre stilistische Vielschichtigkeit andeuten.

Erwähnte Literatur:


  • Clostermann, Annemarie: Mendelssohns kirchenmusikalisches Schaffen, Mainz 1989
  • Dahlhaus, Carl (Hg.): Das Problem Mendelssohn, Regensburg 1974
  • Grossmann-Vendrey, Susanna: Felix Mendelssohn Bartholdy und die Musik der Vergangenheit, Regensburg 1969
  • Klein, Hans-Günter: Das verborgene Band. Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel, Wiesbaden 1997
  • Klegmann, Eckart: Die Mendelssohns, Bilder aus einer deutschen Familie, Zürich 1990
  • Konold, Wulf: Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit, Laaber 1984
  • Richter, Arnd: Mendelssohn, München 1994
  • Rummenhöller, Peter: Romantik in der Musik, Kassel 1989
  • Siebenkäs, Dieter: Ludwig Berger. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1963
  • Stern, Carola: "Ich möchte mir Flügel wünschen". Das Leben der Dorothea Schlegel, 1990
  • Tillard, Francoise: Die verkannte Schwester - Die späte Entdeckung der Komponistin Fanny Mendelssohn Bartholdy, München 1994
  • Weissweiler, Eva: Fanny Mendelssohn. Ein Portrait. Berlin 1985
  • Werner, Eric: Felix Mendelssohn Bartholdy. Leben und Werk in neuer Sicht, Zürich 1980
  • Worbs, Hans Christoph: Felix Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1956
  • Worbs, Hans Christoph: Mendelssohn Bartholdy in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1974

1 Zitiert nach Richter, S. 349