Psalmensingen in den Stundengebeten Laudes und Vesper

1 Die Psalmen


von Franz-Joseph Nix

Bei der Kirchenmusikertagung 2001 stand - entsprechend den Vorschlägen aus dem Vorjahr (s.o.) das "Psalmensingen" im Mittelpunkt aller Aktivitäten. Vor allem bei der Chorleitung unter Kantor Oliver Sperling, Köln, und dem Arbeitskreis "Liturgie" unter Leitung von Prof. Dr. Bretschneider, Bonn, gab es eine auffallende Abstimmung bei der Auswahl der Chorwerke und der Analyse und Interpretation von Psalmen: So z.B. Psalm 115 als Teil der Komposition "Trois Psaumes de David" von Darius Milhaud, und Psalm 13 und 126 aus dem Werk "6 Motetten" von Friedrich Kiel.

Die Psalmen gehören zur gemeinsamen Glaubensquelle von Juden und Christen. "Wären wir Christen uns immer unserer jüdischen Herkunft bewusst geblieben, hätte es den furchtbaren Holocaust so nicht gegeben. Diese entsetzliche Heimsuchung des jüdischen Volkes hätte vielleicht verhindert werden können", so Prof. Bretschneiders unbequemes Wort zu Beginn seiner Psalmeninterpretation. In einer Einführung im neuen Evangelischen Gesangbuch heißt es: "Psalmen zu beten und zu singen gehört bis heute zum Gottesdienst der jüdischen Gemeinde. Es ist Israels Antwort auf das Handeln Gottes an seinem Volk in der Geschichte. Israel hat nie aufgehört, seinen Gott zu loben, zu ihm zu klagen, ihm zu vertrauen und ihn um Hilfe und Rettung zu bitten. Auch Jesus hat die Psalmen seines Volkes gebetet, und die Kirche übernahm sie seit den frühesten Zeiten als festen Bestandteil im Gottesdienst. Mit den Worten Israels beten so auch Christen zu Gott und bringen mit den Juden Lob und Dank. Klage und Bitte vor Gott."

Das biblische Buch der Psalmen enthält 150 religiöse Lieder, die in 5 Abschnitte oder "Bücher" unterteilt sind. Sie sind in einem Zeitraum von fast 1000 Jahren entstanden. Obwohl sie zu großen Teilen König David zugeschrieben werden, stammen die meisten Psalmen nach den neuesten Forschungsergebnissen von unbekannten Dichtern. Wie bei den Volksliedern haben viele an ihnen mitgedichtet. Manche Psalmen wurden über mehrere Generationen erweitert und immer wieder neu aktualisiert. Deshalb enthalten Psalmen die Erfahrung ganzer Generationen.

Weitaus die meisten Psalmen gehören der Gattung der Klagepsalmen und Hymnen an. Neben diesen gibt es die Wallfahrts-, Königs-, Zions- und Thora- Psalmen, sowie mehrere Mischformen.

Die alles bestimmende Mitte in den Psalmen ist Gott. Sie sind keine bloßen Gedichte und religiöse Monologe, sondern an ein "Du" gerichtete Gebete. Dieses "Du" gründet in der Erfahrung Israels, dass der letzte Grund allen Seins kein stummer und echoloser Raum ist, sondern sich auf vielfache Weise in der Schöpfung und in der Geschichte geoffenbart hat. Auch für die Psalmen ist Gott vorrangig ein Gott der Armen und Verfolgten, der das Schreien der Bedrängten hört und sich für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einsetzte Die Sprache der Psalmen ist nicht "fromm" im üblichen Sinne, sondern unangepasst und voller Leidenschaft. Der Psalmbeter verdrängt seine Gefühle von Glück, Verzweiflung und Hass nicht, sondern "schüttet sein Herz aus vor Gott" (Ps 62.9).

Das Kunstvolle der Psalmensprache besteht nicht in einem Reim am Versende, sondern in dem sogenannten Parallelismus membrorum, der parallelen Anordnung der einzelnen Verszeilen. "Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seine Schwingen findest du Zuflucht, Schild und Schutz ist dir seine Treue" (Ps 91.4). Diese Form des "Gedankenreimens" gibt den Psalmen etwas Stetiges und Vertiefendes und hilft dem Beter, beim Lesen und Rezitieren der Psalmen in die "Grundbewegung" der Psalmen hineinzufinden.

Die griechische Fassung des AT, die sogenannte Septuaginta, hat noch einen 151. Psalm in ihrem Text. Er steht, wie es dort heißt, "außerhalb der Zählung". Das bestätigt die Gültigkeit der hebräischen Zählung. Aber auch unabhängig von diesem überzähligen Psalm ist die Zählung der griechischen Fassung und damit auch der lateinischen Übersetzung, der "Vulgata", von der hebräischen verschieden. Die Septuaginta betrachtete die Pss. 9 und 10, bzw. 114 und 115 als je ein Lied, dagegen die Pss. 116 und 147 je als 2 Lieder. Demgemäß ist die liturgische Zählung im katholischen Bereich von Ps. 10 bis Ps. 148 immer um ein Zahl zurück.

Das Singen der Psalmen - einstimmig und unbegleitet - geschieht ganz vom natürlichen Sprachfluss aus; dadurch ergibt sich ein rhythmisch-differenziertes Singen. Der Psalm wird eingeleitet durch einen Leitvers (Antiphon) der vor und nach dem "Ehre sei dem Vater" wiederholt wird. Die einzelnen Psalmverse werden auf einem Ton rezitiert, jeder Halbvers wird mit einer eigenen Melodieformel (Kadenz) abgeschlossen. Nach dem Halbvers gliedert eine länger Atempause den Text.

Wenn sich die Teilnehmer an jedem Morgen der Arbeitswoche in der Hauskapelle des Roncalli-Hauses zur Feier des Morgenlobs (Laudes) zusammenfanden, wurde aus der trockenen Psalmentheorie lebendige Wirklichkeit. Das gemeinsam Singen der Psalmen sorgte immer wieder für ein starkes Gemeinschaftsgefühl und machte Gottes Nähe spürbar.

Benutzte Literatur:
  • Ich lobe dich von ganzer Seele. Alle 150 Psalmen mit Auslegungen Herausgegeben von Walter Kasper u.a., Kreuz Verlag, Stuttgart, 1993.
  • Othmar Schilling, Israels Lieder, Gebete der Kirche, Kath. Bibelwerk Stuttgart, 1966.
  • Gottfried Bitter/Norbert Mette (Hrsg. ), Leben mit Psalmen, Kösel, 1983.
  • Erich Zenger, Dein Angesicht suche ich, Neue Psalmenauslegungen, Herder, 1998.