von PROF. DR. SIEGFRIED KROSS
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Die Brahms-Biographik ist von vornherein kopflastig gewesen. Die historiographische Methodik geht geradezu aus von einem "Dunkelfeld der Geschichte" und meint damit die Tatsache, daß Fakten erst im Abstand von etwas mehr als einer Generation mit historischen Methoden ans gegangen und dargestellt werden können. Das war bei der Monumentalbiographie von Max Kalbeck evident nicht der Fall. Sie erschien mit dem ersten Band weniger als ein Jahrzehnt nach seinem Tode und warf damit geradezu exemplarisch eine Reihe von Problemen auf: Sie wurde geschrieben von einem Manne, der in allen musikjournalistischen Fehden der Zeit höchst streitbar Partei ergriffen hatte. Das mag im Einzelfall noch so sehr unter der Prätention geschehen sein, Brahms' Interessen, so wie er sie verstand, zu vertreten, aber es entbehrte eben jeder kritischen Distanz. So verdienstlich seine Fragebogenaktion unter den mit Brahms vertrauten Zeitgenossen zur Sicherung von Überlieferungen und zum Aufbau eines Faktengerüstes gewesen sein mag: sie litt unter der unzutreffenden Prämisse, persönliche Einbindung in die darzustellenden Ereignisse bilde die zuverlässigste Quelle. In Wirklichkeit potenzierte sich dadurch das Problem der Kalbeck-Biographie, weil jeder Befragte verständlicherweise bestrebt sein mußte, seine Rolle beim Geschehen und seinen Anteil daran nach seinem Verständnis darzustellen. Dazu kam noch ein weiteres gravierendes Problem: weil das Vorbereiten und Verfassen einer achtbändigen Monographie einen so großen und so erheblichen Teil von Kalbecks Arbeitskraft band, daß dies notwendigerweise zu Lasten seiner Erwerbstätigkeit ging, mußte ein Ausgleich für ihn geschaffen werden. Der Bankier und Brahms-Freund Viktor von Miller zu Aichholz verfügte über genügend private Mittel, um diesen für Kalbeck zur Verfügung stellen zu können. Das geschah zweifellos in bester Absicht, hatte aber zur Folge, daß es zu Spannungen im Umfeld der übrigen Brahms-Freunde kam.

Der älteste aller Brahms-Freunde, der Geiger Joseph Joachim, erzwang sogar die Rücknahme des ersten Bandes.

Vorbereitung wie Publikation der Kalbeck-Biographie geschahen im Zeitalter des Historismus, der glaubte, eine Sache inhaltlich erfaßt zu haben, wenn sie ihren Voraussetzungen nach untersucht worden war, so wie das 17. und 18. Jahrhundert seine gesamte Begrifflichkeit aus der Etymologie klären zu können geglaubt hatte. Ein Begriff galt dann als hinreichend bestimmt, wenn seine sprachgeschichtliche Herkunft plausibel geklärt war. Und war die Verbindung zu einer Begriffsbestimmung so total abgerissen, daß man zu ihren Quellen nicht mehr zurückfand, wurde eben wie bei Wolfgang Caspar Printz notfalls ein Madrigallus als Erfinder des Madrigals konstruiert und damit eine nicht belegbare Wortgeschichte substituiert. Die einseitige Bindung an die Historie wurde auch in der Zeit selbst bereits als Gefahr gesehen und persifliert mit dem vorgeblichen Anfang eines jeden Schulaufsatzes, unabhängig von seinem Gegenstand, mit der Floskel: "Schon die alten Griechen und Römer...", damit einen Zusammenhang und eine Rückführbarkeit des jeweiligen Gegenstands auf die Antike herb stellend, selbst wenn er nur in der Imagination des Autors bestand. Die Beschränkung auf eine einzige Untersuchungs- und Darstellungsmethode hatte jedenfalls ungewollt und, zunächst wenigstens auch unbemerkt, eine Verengung des Blickwinkels auf den Gegenstand zur Folge, die sich bei der Darstellung von komplexen geistesgeschichtlichen Vorgängen, wie sie nun einmal in der Künstlermonographie zu behandeln sind, höchst nachteilig auswirkte.

Die Kalbeck-Biographie steht aber noch in einem anderen Punkt in verhängnisvoller Weise unter dem Einfluß einer zeitgenössischen Strömung der Geschichtsschreibung. Entsprechend dem Geschichtsbild Friedrich Treitschkes, nicht, wie der Idealismus geglaubt hatte, die großen Ideen der Menschheit seien das Movens der Geschichte - Hegel hatte in dem usurpatorischen Kriegsherrn Napoleon Bonaparte den "Weltgeist zu Pferde" gesehen -, sondern die großen Persönlichkeiten gestalteten Geschichte nach ihren Vorstellungen, hatte man unter dem Stichwort "Männer machen Geschichte" in der Geistesgeschichte angefangen, von "Geistesheroen" zu sprechen und Kunst- und Musikgeschichte als "Heroengeschichte" darzustellen begonnen. Am eklatantesten zeigen sich deren Einflüsse auch optisch - an der Darstellung einer Gestalt wie Beethoven, der dem freilich mit seiner stürmerischen und drängerischen Phraseologie selbst Vorschub geleistet hatte ("ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, niederbeugen soll es mich gewiß nicht!" und viele andere Äußerungen weisen darauf hin). Der Bildhauer Franz Klein modellierte seine Büste des Komponisten um die Gipsmaske vom Gesicht des zweiundvierzigjährigen Beethoven, und sie zeigt, insbesondere im Profil, deutlich die von den Zeitgenossen belegte Offenheit seiner Züge. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts treten, ausgelöst von der Wandlung des Geschichtsbildes, dann zunehmend Abbildungen eines löwenköpfigen, titanischen Übermenschen auf und beweisen, wie stark biographische Heroendarstellungen bis in die Veränderung der Physiognomie hinein das Bewußtsein der Rezeptionsgeschichte bestimmten

Das war bei dem seinem Wesen nach so ganz und gar unheroischen und hanseatisch bürgerlichen Brahms nicht ganz so leicht zu bewerkstelligen wie bei Beethoven, ist gleichwohl aber unternommen worden: Brahms, der große Einsame, in tragischer Isolierung nur seiner Kunst Lebende hat hier seine ideologischen Wurzeln. Das ging bei Kalbeck bis hin zur Substitution eines Lebensmottos "frei, aber froh" in Anlehnung an Joachims "frei, aber einsam". Während dies jedoch einen Sinn macht, ist das angebliche Brahms'sche schon allein deswegen unsinnig, weil es zwei gleichermaßen positiv besetzte Eigenschaftswörter gegeneinander polt. In mehr als vierzig Jahren der Beteiligung an der Brahms-Forschung ist mir so wenig wie anderen Kollegen, die ich danach befragt habe, je ein Beleg für die Existenz eines derartigen Mottos zu Gesicht gekommen. Es ist freie Erfindung Kalbecks. Kann man darüber achselzuckend hinweggehen, so wird es problematisch, wenn so etwas in die Werkdarstellung und -deutung durchschlägt, bei Kalbeck am eklatantesten in der Rezeption des 1. Klavierkonzerts d-moll op. 15, das ursprünglich eine Symphonie hatte werden sollen. Man mag die Interpretation der Tonkaskaden des Themenkopfs als Symbol für Robert Schumanns Rheinsturz2 als geschmackliche Entgleisung abtun. Dann aber wird erneut sichtbar, daß der kämpferische Musikjournalist Kalbeck sich wohl unter dem Zugzwang sah, gegen den Anspruch Wagners und der Neudeutschen anzuargumentieren, nach Beethovens 9. Symphonie sei kein weiteres Werk dieser Gattung mehr möglich gewesen. Da der junge Brahms mit seinen Klaviersonaten stilistisch so offensichtlich beim mittleren Beethoven angeknüpft hatte, wählte Kalbeck, aus seiner Sicht verständlich, aus dieser Schaffensperiode das Werk, das Beethovens Personalstil prägnanztypisch am reinsten repräsentiert, und postulierte daraus dessen Weiterentwicklung bei Brahms: Das Schicksal, das bei Beethoven lediglich an "die Pforten geklopft habe," so Beethovens eigene Interpretation des Eingangsmotivs, sei bei Brahms real geworden: "Nun aber war das Schicksal, das bei Beethoven an die Pforte pochte, zertrümmernd bei ihm eingetreten und hatte ihn eines Erlebnisses gewürdigt, das ihn mit einem Schlage aus dem mit Blumen umzirkten Zauberkreise romantischer Stimmungen herausriß... und symphonische Gedanken bewegten sein Herz, die er sich kaum zu fassen getraute".3 So wurde in Brahms' Namen ein Anspruch aufgestellt, den dieser selbst stets strikt abgelehnt hat, jedoch im Verständnis des Werkes bis heute verhängnisvoll nachwirkt.

Auch wenn die Heroisierung bei Brahms nicht die Ausmaße angenommen hat, die das Beethoven-Bild insgesamt verschoben haben, so finden sich doch Beispiele genug. Dazu gehört sicherlich die Charakterisierung seiner 3. Symphonie als seine Eroica, die aber mit ihrem still verklingenden, in den Anfang zurücklaufenden Schluß evident so gar nichts Heroisches, in eine Apotheose Mündendes hat und diese Bewertung lediglich aufgrund ihrer parallelen Stellung in der Folge seiner Symphonien im Vergleich zu Beethoven erhalten hat. Sie geht allerdings nicht primär auf Kalbeck zurück und macht damit deutlich, daß diese Tendenz zur Heroisierung zeittypisch war und die Lebensbeschreibung wie die Werkinterpretation erfassen konnte. Sie war also keineswegs verursacht durch einen bestimmten Autor, sondern eine allgemeine geistesgeschichtliche Erscheinung von hohem Konsensgrad. Sie ging sogar bis in die Beschreibung seiner äußeren Erscheinung, für die wir ja mit den vorliegenden Fotographien ein objektives Korrektiv haben.

Im gleichen Jahre 1874 machte Brahms zwei neue Bekanntschaften: die des schlesischen Sängers Georg Henschel und des Schweizer Schriftstellers Joseph Viktor Widmann. Beide haben aus der Zeit ihrer ersten Bekanntschaft Aufzeichnungen über sein Erscheinungsbild zu dieser Zeit hinterlassen, die sich im Vergleich lesen, als beträfen sie zwei unterschiedliche Personen. Georg Henschel schildert den damals einundvierzigjährigen Brahms so:

"Er war vierschrötig, eher kleiner Gestalt, mit einer Neigung zur Dicke. Sein Gesicht war glatt rasiert; die gesunde und lebhafte Farbe seiner Haut ließen seine Liebe zur Natur und die Gewohnheit erkennen, bei jeder Art von Wetter in freier Luft zu sein. Das dichte Haar fiel ihm fast bis auf die Schultern nieder. Seine Kleider und Stiefel waren nicht gerade nach der neuesten Mode, doch saßen sie ihm gut, die Wäsche tadellos. Am meisten aber nahm mich die Güte gefangen, die aus seinen Augen sprach. Sie waren von lichtem Blau, wundervoll klar und glänzend, hin und wieder schelmisch blinzelnd, und doch manchmal von fast kindlicher Treuherzigkeit. Bald fand ich heraus, daß diese Schelmerei seiner Augen mit einer Eigenschaft seines Charakters übereinstimmte, die vielleicht gesunder Sarkasmus genannt werden kann."4

Diesen Beobachtungen eines wohlwollenden Zeitgenossen ohne publizistischen Ehrgeiz stellte der ambitionierte Journalist und Schriftsteller Widmann seine Sicht in signifikanter Wortwahl entgegen:

" ...er machte durch seine persönliche Erscheinung sofort den Eindruck einer machtvollen Individualität. Zwar die kurze, gedrungene Figur, die fast semmelblonden Haare, die vorgeschobene Unterlippe, die dem bartlosen Jünglingsgesicht (Brahms war damals immerhin 41 Jahre alt) einen etwas spöttischen Ausdruck gab, waren in die Augen fallende Eigentümlichkeiten, die eher mißfallen konnten. Aber die ganze Erscheinung war gleichsam in Kraft getaucht. Die löwenhaft breite Brust, die herkulischen Schultern, das mächtige Haupt, das der Spielende manchmal mit energischem Ruck zurückwarf, die gedankenvolle schöne, wie von innerer Erleuchtung glänzende Stirn und die zwischen den blonden Wimpern ein wunderbares Feuer versprühenden germanischen Augen eine künstlerische Persönlichkeit, die bis in die Fingerspitzen hinein mit genialem Fluidum geladen zu sein schien. Auch lag etwas zuversichtlich Sieghaftes in diesem Antlitz."5

Immerhin verdanken wir der breiten Verankerung der Ideologie des Historismus im Bewußtsein des deutschen Bildungsbürgertums des späteren 19. Jahrhunderts die wahre Springflut der Memoirenliteratur, mit welcher mehr oder weniger Vertraute aus seinem Umfeld Details aus seinem Leben bekannt gemacht und verewigt, z. T. aber auch reine Randfiguren Einzelheiten breitgetreten haben, die rein gar nichts zur Erkenntnis seines Wesens beigetragen haben. Die Spannbreite reicht da vom echten Quellencharakter, etwa von Mitteilungen aus dem Kreis des Hamburger Frauenchors, über die geschwätzigen, selbstüberschätzenden Memoiren der Susanne Schmaltz,6 die Brahms zur Staffage ihres eigenen, relativ wenig bedeutenden Lebens machten, das sie damit aufzuwerten trachteten, bis hin zu der nun wirklich weltbewegenden Erzählung, wie man bei der ersten Konzertreise mit Eduard Reményi in Celle in Ermangelung frischen Lorbeers den zeitüblichen Lorbeerkranz für die Künstler durch Plünderung des Efeus der heimischen Terrasse ersetzt habe.7

Nun ist es eine Illusion zu glauben, derartige Überlieferung aus erster Hand, um die es sich dabei ja zweifellos handelt, biete allein deswegen zuverlässige Fakten; schließlich diente sie ja als literarische oder wenigstens protoliterarische Gattung von vornherein der Aufwertung der eigenen Existenz, einen Strahl vom Glanz der Großen dieser Welt auf die eigene Mediokrität zu lenken. Daher wird es verständlich, daß der eigene Anteil an den berichteten Ereignissen mit zunehmendem zeitlichem Abstand wuchs, die Darstellung erhielt unabsichtlich eine subjektivere Färbung, als den Autoren bewußt war, und die der kritische Historiograph keine Chance hat abzulösen, weil er die Überlieferung allenfalls einer Plausibilitätskontrolle unterziehen kann, aber keiner echten Kontrolle im Sinne historischer Methodik durch ergänzende Quellen.

Das gravierendste Defizit der Brahms-Biographik insgesamt ist die mangelnde Integration analytischer Methoden, denn ungeachtet der Frage, ob die Künstlermonographie überhaupt noch eine zeitgemäße Form der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Darstellung ist, wird man sie methodologisch kaum mehr so anlegen können wie Erich Schenk seine umfangreiche Mozart-Biographie zu dessen 200. Geburtstag, in welcher Musik als Ausdruck des Gestaltungswillens des Dargestellten sowie die Probleme und Konflikte, die Erfolge und Niederlagen, die sich daraus ergaben, ebenso vollständig ausgeblendet wurden, obwohl sie doch das Entscheidende im Leben eines gestaltenden Künstlers sind. Die innere Biographie sollte eigentlich die Priorität vor der äußeren haben und diese Gewichtung der Materie sich auch in den Proportionen der Lebensbeschreibung niederschlagen. Es ist aber nicht zu übersehen, daß ein Autor, der sich dieser Herausforderung stellt vor ungleich größeren Problemen der sprachlichen Bewältigung der Materie steht.

Auch in diesem Falle belastet eine historische Hypothek, die eng mit dem Problem der "Heroenbiographie" zusammenhängt, die Verhältnisse: der damals beherrschende Persönlichkeitsbegriff Goethes ("Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit"8) und das Idealbild von Dichtung und Wahrheit. Nun stehen weder jedem wissenschaftlichen Autor die Sprach- und Gestaltungskraft Goethes zu Gebote, auch hat er sich von der Vermengung von Dichtung und Wahrheit freizuhalten, noch ist ein großer Künstler generell in jeder Beziehung zugleich von menschlicher Größe gewesen. Die unsäglichen Plattitüden von Beethovens Wortspielen, teilweise sogar vertont, sein Unverständnis gegenüber dem pubertierenden Neffen oder sein pathologischer Haß auf dessen Mutter haben nichts mit der Größe des Komponisten zu tun. Fragwürdig ist schon die stillschweigend implizierte These, ein Biographierter müsse eine einheitliche, in sich schlüssige Persönlichkeit sein. Wer sagt uns eigentlich, ob nicht gerade die Bewältigung innerer Widersprüche oder die Kluft zwischen der reichen inneren Welt eines schöpferischen Menschen und seinen äußeren Lebensumständen, wie sie gerade bei Schubert so kraß ist, der Kampf gegen fortschreitende oder Schubweise auftretende Krankheit, wie er bei Robert Schumann so deutlich zutage tritt, eigentlicher Urgrund der Entstehung manchen Werkes gewesen sind.

Den auffälligen Mangel der frühen Brahms-Forschung beim Einsatz stilanalytischer Methoden, die ja erst zur Stilkritik und damit zu einer ersten Bestimmung seines Personalstils befähigt, sowie dessen Abgrenzung gegen Erscheinungen des Zeitstils, des Personalstils anderer Komponisten der Zeit mit mehr oder weniger eindeutige personalstilistischer Identität (so Kirchner, Goldmark, Brüll oder Raff), sowie letztlich auch die Frage regionalstilistischer Einflüsse, wie sie ja bei einem Norddeutschen mit Wahlheimat Österreich nicht uninteressant sind, wird man Kalbeck nicht primär anlasten können. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß das notwendige Instrumentarium dazu voll zur Verfügung gestanden hätte und Hermann Deiters und Hugo Riemann mit ihrer Bearbeitung von Thayers Beethoven-Biographie ja vorgemacht hatten, wie Stilanalyse in eine Biographie eingebracht werden müßte, um die Gestalt eines Komponisten auch in seinem Schaffen verstehbar zu machen, denn ohne diesen Aspekt ist die Darstellung eines schaffenden Künstlers eben allenfalls eine Halbwahrheit. Keinem Historiker fiele es ein, eine Politikerbiographie zu schreiben, ohne dessen politisches Handeln, seine Beweggründe dazu und die Hindernisse auf seinem Weg darzulegen und in ihrem Widerspiel intelligibel zu machen.

Merkwürdigerweise setzte die stilanalytische und -kritische Forschung zu Brahms erst relativ spät ein. Sie begann in England mit dem großen Historical, Descriptive and Analytical Account of the Entire Works of Johannes Brahms (1912) von Edwin Evans, der erst 1938 vollständig vorlag. Infolge der Ausgrenzung der deutschen Musikwissenschaft aus der internationalen Communität nach dem Ersten Weltkrieg, der folgenden Wirtschaftskrise und der Abschottung Deutschlands in den dreißiger Jahren wurde er aber auf dem Kontinent nicht zur Kenntnis genommen. Mit seiner einseitigen Fixierung auf Fragen der Metrik war er allerdings auch wenig geeignet, Brahms' stilistische Identität zu diagnostizieren. Wesentlich differenzierter und im eigentlichen Sinne stilanalytisch ging Donald Francis Tovey vor, doch waren seine Untersuchungen, meist zu einzelnen Werken, auf verschiedene Publikationsorgane verstreut, ihre Zusammenfassung erfolgte teilweise erst während des Zweiten Weltkrieges und blieb daher weitgehend unbeachtet, so daß die stilanalytische Forschung zu Brahms auf dem Kontinent im Grunde erst nach dem Krieg sehr zögerlich und weitgehend ohne Kenntnis der englischen Vorarbeiten einsetzte

Nun hatte aber Kalbeck keineswegs auf z.T. sehr weitläufige Werkdarstellungen verzichtet, die jedoch überwiegend im literarisierend eine assoziativ Deskriptiven stecken blieben und subjektive Impressionen ohne Nachprüfbarkeit und insoweit ohne Verbindlichkeit und kritische Distanz verallgemeinerten. Als verhängnisvoll erwies sich, daß Kalbeck diesem Mangel an analytischer Methodik eine ersatzweise andere Richtung wies, die auch hundert Jahre nach Brahms' Tod immer noch fortwirkt: die Semantisierung von Brahms' Musik, auch da, wo sie sich nun wirklich nicht dazu eignet. Das beginnt bei jenem angeblichen Lebensmotto "frei, aber froh" aus Grundton, Terz und Oberoktav, das in einer Musik, die in solchem Umfang mit Oktavierungen und Austerzungen arbeitet, zwangst läufig ungezählte Male auftritt, zumal im Klaviersatz, aber auch etwa im Streichsextett op. 18 mit seinen häufigen Oktavierungen der Terz. Die Tonschichtung f-a-f ist daher ebenso häufig und insofern wenig signifikant wie g-h-g oder entsprechende Kombinationen von jeder beliebigen anderen Tonstufe aus. Auf die fatale künstliche Semantisierung des Anfangs des 1. Klavierkonzerts op. 15 wurde bereits hingewiesen. Sie zu stützen, verlegte Kalbeck eigens den Beginn der Arbeit an dem Werk entgegen den Quellen hinter die erste Aufführung der9. Symphonie von Beethoven, die Brahms nachweislich gehört hat. Das Absurdeste, was Kalbeck durch die Kombinatorik aus Noten herausgelesen hat, ist die Semantisierung des 2. Streichsextetts op. 36, in welches Brahms wohl tatsächlich den Namen seiner Jugendfreundin Agathe von Siebold mit den Tonbuchstaben a-g-a-(t)h-e hineingeheimnist hat, wie es zahlreiche Komponisten vor ihm mit ähnlichen Zitaten getan haben. Aber das genügte Kalbeck selbstredend nicht: er verschob die Tonbuchstaben so lange, bis sich auch die Initialen "Gathe" Siebold - "Dein Brahms" herauslesen ließen, und aus dem Quintsprung es-b-b im Violoncello las er "Siebold-Brahms" 9 heraus. Selbstverständlich ist das nicht herausanalysiert, sondern hineininterpretiert. - Noch dem 2. Streichquintett op. 111 legte er eine konkretisierende und damit profanisierende Deutung bei: Brahms im Prater. Die trug er Brahms auch noch bei Gelegenheit vor und der soll augenzwinkernd darauf geantwortet haben: "Nicht wahr; und die vielen hübschen Mädchen darin!"10 Diese Ironisierung seiner Phantasie durch Brahms gab er dann auch noch als dessen Autorisierung aus.

Es waren diese und andere Ungereimtheiten, welche schließlich die Zuverlässigkeit der monumentalen Kalbeck-Biographie nachdrücklich in Zweifel zogen, bis schließlich die Untersuchungen von Uwe Harten11 gewiß machten, daß es sich hier keineswegs um einem Literaten im Überschwang des Schreibens spontan aus der Feder geflossene Lyrismen handelte, sondern daß Kalbeck in den rund zwanzig Jahren seines engen Umgangs mit Brahms sich notfalls die Quellen seines Brahms-Bildes systematisch selbst geschaffen hatte. Die Zuverlässigkeit der bis dahin für grundlegend gehaltenen Brahms-Biographie, sowie die Schlüssigkeit des von ihr vermittelten Brahms-Bildes waren somit in Frage gestellt.

Auf den ersten Blick mag es daher befremdlich erscheinen, wenn trotzdem gesprochen werden kann von einem gesicherten Faktengerüst, das die Brahms-Literatur des Historismus uns hinterlassen hat, weil wir die Angaben der großen Monumentalbiographie nicht mehr ungeprüft übernehmen und ihre Zuverlässigkeit unterstellen müssen. Da ist zum ersten das riesige Corpus des Brahms-Briefwechsels mit den zunächst 16 Bänden der Brahms-Gesellschaft, die in letzter Zeit um eine neue Folge ergänzt werden; dazu kommen die beiden dickleibigen Bände seines Briefwechsels mit Clara Schumann, auch wenn er nur noch lückenhaft ist, und weitere Sonderveröffentlichungen, wie der Briefwechsel mit Theodor Billroth, Ernst Frank, die Briefe an die Familie, die von Simrock, der Briefwechsel mit den Beckeraths usw.. Die Mehrfachüberlieferung eröffnet also durchaus die Möglichkeit kritischen Umgangs mit und der Abwägung zwischen den Quellen. Dafür nur ein Beispiel: die Einschätzung der Voraufführung der drei ersten Sätze des Deutschen Requiems im Wiener Redoutensaal unter Herbeck. Kalbeck war zu dieser Zeit noch nicht in Wien. Seine Schilderung der Vorgänge ist daher, mit historischen Methoden erarbeitet, insbesondere wohl auch die der mündlichen Tradition der Beteiligten. Nach den durch seinen Sohn überlieferten Äußerungen Herbecks zum Komponisten Brahms ist wohl auch davon auszugehen, daß er sich nicht besonders für das Werk engagiert hat. Es gibt also keinen triftigen Grund, an der Stichhaltigkeit von Kalbecks Schilderung zu zweifeln. Daß Joachim die Dinge anders gesehen hat, muß nicht notwendigerweise im Widerspruch dazu stehen, denn im Gegensatz zu allen anderen Beteiligten verfügte er über ein Vorverständnis des Werkes, war von seiner Größe überzeugt und konnte infolgedessen zwischen dem Werk selbst und dem Hörerlebnis unterscheidend was alle anderen Beteiligten nicht konnten. - Nun ist auch der gedruckte Briefwechsel keine Quelle reiner Freude, weil die Edition nicht eigentlich kritisch war, Teile ohne Kennzeichnung unterdrückt wurden aus Gründen des Personenschutzes wie man ihn damals verstand, Datierungen fehlerhaft sind und dergleichen mehr. Insbesondere aber fehlt als praktische Arbeitshilfe ein Generalregister, das die rund 30 Bände des gedruckten Briefwechsels der Benutzung aufschließt. Insgesamt aber bieten die Fragebögen, die Kalbeck an Zeitgenossen versandt hat, seine eigenen Aufzeichnungen aus zwanzig Jahren, die umfangreiche Memoirenliteratur und der Briefwechsel bei allen Vorbehalten aneinandergelegt doch ein weitgehend zuverlässiges biographisches Grundraster, was für die Brahms-Deutung und die Analyse allerdings nicht gilt.

Doch hat die nach dem 2. Weltkrieg einsetzende stilanalytische Forschung inzwischen ein sehr differenziertes Bild von seinem Werk entwickelt, das allerdings einer Zusammenfassung und der Einarbeitung in die Biographik harrt. Derzeit wird man feststellen müssen, daß die Brahms-Bilder der biographischen und der stilanalytischen Literatur noch nicht wieder zusammengeführt worden sind. Der erste Ansatz dazu, den ich na.ch mehr als vierzig Jahren der Beteiligung an der Brahms-Forschung, vorwiegend stilanalytischer Orientierung, aus dem Abstand von 100 Jahren nach seinem Tode vorgelegt habe, ist daher mit Bedacht als "Versuch einer kritischen Dokumentarbiographie" bezeichnet worden.

Das Kernproblem der modernen Brahms-Biographik besteht wohl darin, die inzwischen breit angewachsene stilanalytische Literatur soweit aufzubereiten, als sie für die Erkenntnis seines Schaffens von Bedeutung ist und ein zeitgemäßes Brahms-Bild mitprägt. Teilweise ist sie allerdings bereits so speziell geworden, daß sie dazu nur noch peripher beitragen kann und eine Schnittmenge zur Brahms-Philologie bildet, die ihrerseits zwar hochwichtig ist, aber zur Biographik wenig beiträgt, dafür jedoch bei der Gesamtausgabe seiner Werke und anderer quellenkritischer Ausgaben unerläßlich ist. Die Vorstellung, daß Brahms alle seine Werke sorgfältiger redigiert habe als andere zeitgenössische Komponisten - was ohnehin relativ und nicht generell falsch ist -, hat sich nämlich als Bestandteil der Brahms-Legende erwiesen.

Dieses Wieder-Zusammenführen von biographischer und analytischer Literatur wird möglicher-, wenn auch nicht notwendigerweise eine Dichotomie mehr oder weniger von selbst auflösen, welche die Brahms-Literatur der letzten zwanzig Jahre durchzogen hat. Die sehr zahlreichen Würdigungen aus Anlaß der 100. Wiederkehr seines Geburtstags 1933 hatten noch einheitlich in Brahms den konservativen Bewahrer aller guten Traditionen der deutschen Musik gesehen. Das ging soweit, daß Ludwig Speidel die Tonartenfolge seiner Symphonien c-D-F-e mit dem berühmten Finalthema aus Mozarts Jupiter-Symphonie in Verbindung brachte. Nur einer "löckte wider den Stachel": Arnold Schönberg hielt in Radio Frankfurt einen Vortrag mit dem provozierenden Titel "Brahms, der Fortschrittliche". Während man damals noch allgemein davon ausging, "die romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan" um den bekannten Buchtitel von Ernst Kurth zu zitieren, habe in die Atonalität geführt, hatten Schönberg und andere Vertreter der 2. Wiener Schule viel genauer hingesehen und entdeckt, daß einige Stilelemente auch von Brahms sich weiterentwickeln ließen und zusammen mit den aus Wagners Harmonik übernommenen erst zum Total "moderner" Musik führten, mit der Folge, daß das überlieferte Weltbild des Gegensatzes Wagner-Brahms als Fortschritt und Konservatismus nicht mehr stimmte.

Nun blieb der Vorstoß von Schönberg zunächst folgenlos: Bei der damaligen Rundfunkdichte und der nachmittäglichen Sendezeit, zu der erwerbstätige Menschen eben arbeiten, fand er keine Resonanz. Erst nach dem Kriege wurde das Manuskript gedruckt, was die mehr philologische Frage aufwarf, ob Schönberg tatsächlich bereits 1933 soviel Modernes bei Brahms hatte entdecken können. Tatsache war, daß der Auf seil für den Druck überarbeitet worden war und Schönberg Erfahrungen des Komponierens mit 12 Tönen bis über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus eingearbeitet hatte. 1958 habe ich in der Neuen Zeitschrift für Musik und in einem Vortrag in Hamburg zum ersten Male in der eigentlichen Brahms-Forschung auf den Artikel hingewiesen. In der Folgezeit wurden insbesondere zwei Begriffe daraus rezipiert und degenerierten rasch zu musikwissenschaftlichen Schlagwörtern: "musikalische Prosa" und "entwickelnde Variation". Namentlich der letztere hat mehr vernebelt als Klarheit geschaffen, denn Schönberg hatte auf die historische Basis der Erscheinung in der thematischen Arbeit Beethovens und Haydns hingewiesen, dabei jedoch den grundlegenden Unterschied übersehen, daß diese Technik von den Klassikern deduktiv und somit im Wesentlichen in der Durchführung eingesetzt wurde, bei Brahms hingegen induktiv, d.h. zur Ausbildung von Themen und Formen verwendet wird und daher insbesondere in der Exposition auftritt.

Aber wie immer bei Begriffen, die nicht exakt definiert sind, wurde das Schlagwort von der "entwickelnden Variation" begierig aufgenommen und auf Brahms' Werke von op. 1 bis op. 122 ausgeweitet.12 Dadurch wurden nicht nur stilistische13 Schichtungen in seinem Werk überspielt, die längst definiert waren, sondern auch solche, welche die stilanalytische Forschung der jüngsten Zeit gerade erst herausgearbeitet hatte. Der vermeintliche Fortschritt nivellierte mithin selbst Forschungsergebnisse, die eigentlich bereits als gesichert gelten konnten. Es geht heute also nicht mehr allein um die Zusammenführung von biographischer und analytischer Literatur, sie allein wäre bruchlos gar nicht zu leisten, sondern würde auch wieder nur zu einem verzeichneten Brahms-Bild führen. Auch hier muß demnach die kritische Auseinandersetzung mit den Vorarbeiten einsetzen. - Nun wandeln sich ja nicht nur die von der Biographik zu verarbeitenden Forschungsergebnisse thematisch und methodologisch, sondern zugleich die Anforderungen des Lesers an eine Biographie im Kontext anderer Veröffentlichungen. Die klassische Heroenbiographie des Historismus ist heute so tot, daß der Widerstand gegen diese Art der Lebensbeschreibung die ganze Gattung überhaupt in Frage gestellt hat. Der Künstler ist nicht mehr der große Einzelne, der auf einsamer Anhöhe steht, daher eo ipso einen weiteren Horizont hat als das Volk, - "das im Dunkeln wandelt" ihm und seiner ganzen Zeit den Rücken zukehrend, weil er ihm so weit voraus ist, daß er eben nur noch alleine ist, unbekümmert auch darum, ob die hinter oder unter ihm ihn verstehen. So hat Caspar David Friedrich ihn gemalt auf dem berühmten Bild in der Hamburger Kunsthalle. Noch Arnold Schönberg hat abgelehnt, überhaupt für seine eigene Generation zu schreiben, sondern auf das natürlich wachsende Verständnis der folgenden gehofft, welches aber nicht einfach als Folge der Evolution wuchs. Soviel zur Fortwirkung des Spannungsfelds zwischen Modernität und historischem Verständnis des Künstlertums.

Die Darstellung des Künstlers als zeitabgehobener und ungebundener Heros ist heute nicht mehr möglich. Es ist vielmehr ausdrücklich zu fragen nach den gesellschaftlichen Bedingungen seines Künstlertums und seines Schaffens, auch wenn ein Mann wie Brahms glaubte, sie leugnen zu können mit der berühmten, wenn auch nur anekdotischen Antwort auf die Frage nach der Quelle der Erfindung insbesondere der Themen zu seinen langsamen Sätzen: die Verleger bestellten sie eben so. Auch diese Einstellung spiegelt ja nichts wieder als die Zeitbedingtheit seines Selbstverständnisses. Und die Persönlichkeitspsychologie hat so tiefe Spuren im allgemeinen Bewußtsein hinterlassen, daß man nicht mehr vom Persönlichkeitsbegriff Goethes und dem Idealbild von Dichtung und Wahrheit ausgehen kann, von deren Sprache ganz abgesehen. Im Gegenteil: der wissenschaftliche Autor sollte sich hüten, sich dem Sprachstand der Literatur, der zeitgenössischen wie der historischen, anschließen zu wollen; das geht in den seltensten Fällen gut, so wie der verkrampfte aggiornamento einiger Theologen, aus Jesus von Nazareth den Che Guevara seiner Zeit zu machen. Vielmehr muß es darum gehen, den Künstler aus dem historischen und sozialen Umfeld seiner Zeit durch kritische Aufbereitung der zeitgenössischen Überlieferung wie der analytischen Rezeption seines Schaffens für die Leser einer Zeit verstehbar zu machen. Es wird daher nie eine zeitlos gültige Biographie geben, denn in jede Lebensbeschreibung gehen drei Zeitebenen ein, die des Dargestellten, die des Schreibenden und die der Leser, für welche sie geschrieben ist. Das von einer Biographie vermittelte Bild eines Dargestellten wird daher seine Schlüssigkeit immer nur für eine Generation haben, und die lebendige Wirksamkeit eines Künstlers wird sich auch daran erweisen, ob eine Generation bereit ist, ihr Bild vom Leben und Wirken eines Künstlers zu manifestieren.


1 Der vorliegende Text ist die schriftliche Fassung eines Referates, das Prof. Dr. S. Kross anläßlich des Internationalen Brahms-Kongresses in Gmunden 1997 gehalten hat. Es handelt sich hier um einen Vorabdruck aus dem Kongreßbericht, hrsg. von Ingrid Fuchs, der im Verlag Hans Schneider/Tutzing Ende 1999 erscheinen wird.
2 M. Kalbeck, Johannes Brahms, Bd . 1 Oo S.165 ff.
3 Ebda,. S. 1-64f.
4 S. Kross, Johannes Brahms. Versuch einer kritischen Dokumentarbiographie, 2 Bde., Bouvier-Verlag, Bonn 1997, S. 677.
5 ebda, S. 694.
6 Susanne Schmaltz, Beglückte Erinnerung. Lebenslauf eines Sonntagskindes. Dresden (1926).
7 A. Gildemeister, Der Efeukranz. Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung Berlin, 7.5.1933.
8 Westöstlicher Diwan.
9 Kalbeck, a.a.O. Bd. 2, S. 157.
10 Ebda., S. 210.
11 U. Harten, Max Kalbeck. Bruckner-Symposion Linz 1983, hrsg. v. 0. Wessely, S. 123.
12 W. Frisch, Brahms and the principle of developing variation, Berkley 1984.
13 J. Webster: Schubert's Sonata Form and Brahms's First Maturity. 19tb Century Music 2/3 (1978/79).