Intentionen, Konzeptionen und Erlebnisse im Zusammenhang mit der Entstehung des Einheitsgesangbuchs Gotteslob (GL)
Auszüge aus dem Referat vom 3. 1. 1994 in Altenberg
VON FRITZ SCHIERI
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I
Zu den Punkten Intentionen und Konzeptionen beim GL möchte ich mich hier kurz fassen, da ja bereits Erschöpfendes dazu mitgeteilt ist, insbesondere in den Publikationen WERKBUCH ZUM GL, Band IX, S.300 ff. und REDAKTIONSBERICHT ZUM GL, S.14 und 26 ff.
Die Bemühungen um ein solches Buch reichen von 1847 bis 1963/64, d. i. bis zum Beschluß der deutschen Bischofskonferenz, ein Einheitsgesangbuch (EGB) vorzulegen. Sein Erscheinen war unumgänglich notwendig geworden durch die auf dem 2. Vatikanischen Konzil beschlossene Reform der Liturgie der römisch-katholischen Kirche, vor allem durch die Einführung der Volkssprachen in den Gottesdienst (der Gemeindegesang erhält liturgischen Rang) und die Wiederentdeckung des Kantorenamts (vor allem beim Antwortpsalm der Messe). Zugleich bewirkte die beginnende Annäherung der christlichen Konfessionen die Ausarbeitung gemeinsamer Texte für die Grundgebete und Kernstücke des Gottesdienstes wie Vaterunser, Credo usw. und gemeinsamer Liedfassungen a.us dem reichen Angebot der deutschen Traditionen. Aber auch aus soziologischen Motiven war ein einheitliches Gebet- und Gesangbuch für alle Bistümer deutscher Sprache (Deutschland, Österreich, Schweiz, Bozen, Straßburg, Lüttich, Luxemburg, Böhmen, Rumänien) unumgänglich: die Mobilität eines großen Teils der Bevölkerung verlangte nach gemeinsamen Fassungen; ganz abgesehen davon, daß es ein unverhältnismäßiger Aufwand gewesen wäre, wenn nun jede der ca. 45 Diözesen ein eigenes Buch herausgebracht hätte. Durch eine kluge Politik war es dennoch möglich., daß diözesanes Eigengut in vertretbarem Umfang erhalten blieb (Eigenteile ab Nr.800).
Natürlich sind beim EGB auch aktuelle theologische Anschauungen mit eingeflossen. So ist es insgesamt ausgezeichnet durch eine im Vergleich zu den meisten bisherigen Büchern größere Schriftnähe und durch Schwerpunkte in christozentrischer, ekklesiologischer und eucharistischer Hinsicht. Über die ökumenischen Aspekte wurde bereits gesprochen.
Über den Ablauf der Arbeit, die beteiligten Personen, die angewandten und großenteils erst im Verlauf sich entwickelnden Methoden geben die o. g. Publikationen genauen Aufschluß.
II
So möchte ich im folgenden über meine Erlebnisse und Erfahrungen während der Erarbeitung des EGB berichten. Sie können natürlich nur für einen Ausschnitt aus dem Gesamtgeschehen zutreffend sein: Ich war, von einigen vorbereitenden Sitzungen und Arbeiten abgesehen, Vorsitzender der sog. Subkommission II (Psalmodie und Gemeindehoren) und damit auch Mitglied der sog: Hauptkommission, die die letzten Entscheidungen Über das von Subkommissionen Erarbeitete zu treffen hatte; sie bestand großenteils aus Bischöfen. Ferner gehörte ich als Mitglied der Subkommission IB an (Nichtliedmäßige Gesänge). Mit den Problemen der veränderten Liedfassungen, die seinerzeit so großen Staub aufwirbelten, hatte ich nichts oder nur am Rande zu tun; das war Sache der Subkommission IA (Vorsitzende: Paul Beier, Osterreich, später Erhard Quack, BRD). Die genaue Zusammensetzung der einzelnen Kommissionen ist im Redaktionsbericht (s. o.) bekanntgegeben. Nach Ländern aufgegliedert gehörten der SK II 7 Personen aus der BRD, 1 aus der DDR, 3 Osterreicher und zwei Schweizer an; bei den anderen Kommissionen war das Verhältnis ähnlich.
Der große Umfang des Sprachgebiets brachte naturgemäß eine Vielzahl von Mentalitäten, Erfahrungen, Sonderentwicklungen ein, insbesondere auch einen deutlichen Gegensatz zwischen Nord und Süd. Es bedurfte mancher und manchmal langer Debatten, um solche Gegensätze kennenzulernen und in die Arbeit zu integrieren. Der später manchmal erhobene Vorwurf von Norddeutschen, das GL sei zu süddeutsch orientiert und der gegenteilige Vorwurf der Süddeutschen, es sei zu "preußisch", beweist, daß man insgesamt auf dem richtigen Wege war und daß es gelungen ist, die Spannungen auszugleichen. Denn: wer benutzt schon ein Gesangbuch von der ersten bis zur letzten Seite? Es kommt doch darauf an, daß jeder das ihm Gemäße und Zusagende auswählen kann und daß in zentralen Dingen doch Gemeinsamkeit möglich ist. Wer freilich gegen die Liturgiereform ist, der wird auch das GL ablehnen. So sind manche allzu konservative Personen, die anfangs mitgearbeitet haben, nach kurzer Zeit wieder ausgeschieden, nachdem sie erkannt hatten, daß ihre Anschauungen sich nicht durchsetzen würden. Im ganzen aber wird man sagen können, daß die Zusammenarbeit gut war, nicht spannungslos und mit mancher Meinungsverschiedenheit, aber ohne Streit. Divergenzen wurden in aller Regel ausdiskutiert, durch meinungsbildende und erst am Ende entscheidende Abstimmungen geklärt. Jeder mußte lernen, auch Niederlagen einzustecken und dennoch weiter positiv mitzuarbeiten. Im Kennenlernen anderer Auffassungen, Stile, Standpunkte, Mentalitäten und Erfahrungen lag eine nicht immer einfache, aber letztlich doch lohnende und bereichernde Aufgabe.
Sehr erleichtert wurde die Arbeit der Subkommissionen durch das gute Einvernehmen mit dem Sekretär, dem jetzigen Prälaten Josef Seuffert, Mainz, der das Ganze mit größter Umsicht und Geschicklichkeit steuerte, überall präsent und unendlich fleißig war, dabei aber nie seine Position, die eines modern denkenden, beweglichen, stark von der Jugendarbeit und der Werkgemeinschaft Musik geprägten Priesters mit viel Erfahrung im Umgang mit Gemeinden sowie mit Musik und Gesang aller Art, verleugnend. Auch die Zusammenarbeit mit der Hauptkommission, speziell mit den dort versammelten Bischöfen, war gut, wenngleich dieser Kreis insgesamt spürbar konservativer eingestellt war als Sekretär und Subkommissionen. So hätten wir in der Frage der deutschen Psalmodie gerne eine weitergehende und freiere Behandlung der Akzentuierungs- und Unterlegungsregeln gewünscht: man blieb aber dann doch näher an den lateinischen Vorbildern.
III
Ferner möchte ich berichten von einigen Einzelproblemen, wie sie im Verlauf der EGB-Vorbereitung aufgetaucht waren.
In manchen Probepublikationen, die zum Vertrautwerden einer größeren kirchlichen Öffentlichkeit mit dem kommenden Buch seit 1969 publiziert wurden, waren viele Kompositionen von Kommissionsmitgliedern enthalten. Es konnte der Vorwurf der Eigenbegünstigung erhoben werden - und er wurde erhoben. Es genügte nicht, zu versichern, daß alle Abstimmungen anonym erfolgt waren und daß Autoren über eigene Stücke nicht mit abstimmen durften. So wurde beschlossen, die nächste Probepublikation nach Vorlage des gesamten Materials durch die Diözesanbeauftragten entscheiden zu lassen. Das Überraschende Ergebnis war: die vorher getadelten Autoren, insbes. Rohr, Seuffert und Schieri, waren noch stärker als bisher vertreten! Heinrich Rohr schied sogar aus der SK II aus, um dem Verdacht der Manipulation und Begünstigung eigener Kompositionen entgegenzuwirken.
So ergaben sich oft kuriose Situationen: Ein Stück, z. B. ein Ordinariumsteil, Halleluja oder Kehrvers, wird von der Kommission durchgesungen und besprochen; der anwesende Autor darf sich aber nicht dazu äußern, ja sich nicht einmal zu erkennen geben. Ein anderes Problem: Viele Stücke konnten einige Zeit nicht behandelt werden, weil die endgültigen Textfassungen (ökumenisch) noch nicht vorlagen. Da das sehr spät geschah, mußten dann die Komponisten mit der Bitte um größere Beeilung zur Änderung ihrer Melodien aufgefordert werden. Im übrigen waren anfangs ausdrücklich ungewöhnliche Formen verlangt worden: z. B. ein Gloria sollte nicht im bisher üblichen zeilenweisen Wechsel gesungen, sondern nach seinem inhaltlichen Aufbau gegliedert werden. Nach entsprechenden Ausschreibungen ging eine Anzahl solcher Kompositionen ein. Fast alle wurden in einem späteren Stadium wegen ihres ungewöhnlichen Aufbaus abgelehnt. Fast das einzige verbleibende Stück war das Credo apostolicum GL 448 mit Gemeinde-Refrain.
IV
Die Subkommission II (Psalmodie und Gemeindehoren), deren Leiter ich war, kam nach Sichtung des Materials aus dem ganzen deutschen Sprachgebiet und nach langen Diskussionen zu folgenden Ergebnissen für den Gemeindegesang:
1) Die beste Form des Psalmengesangs ist und bleibt der tradierte Typ des tenoralen Psallierens, d. h. zeilenweises Singen auf einem Ton mit melodischer Schlußformel am Zeilenende.
2) Diese Form ist auch im Deutschen möglich und gut, wenn die Sprache entsprechend gestaltet ist; das verbreitete Unbehagen am deutschen Psallieren resultiert aus der vom Singen her unzulänglichen Sprachgestalt der meisten Übersetzungen.
3) Die Rhythmusprobleme sind lösbar, wenn nur Zeilenschlüsse mit Hauptakzent auf der letzten, vorletzten oder drittletzten Silbe vorkommen. (Vgl. dazu den folgenden Bericht über die Gemeinsame Psalter-Übersetzerkommission.)
Auf dieser Basis wurde nun das gemeindemäßige Psalmensingen im EGB gestaltet. Das Idealziel, alle Psalmen in allen Psalmtönen singen zu können, wurde allerdings nicht erreicht. Es wären dafür noch etwa 2 Jahre Vorbereitungszeit erforderlich gewesen, so daß das GL 1975 nicht hätte erscheinen können. Um hier Schwierigkeiten zu vermeiden, wurde eine Tabelle der für Psalmen und Cantica geeigneten Töne erstellt. Im GL ist weitgehend danach verfahren worden, nicht aber in manchen späteren Publikationen.
An allen diesen Dingen war die Werkgemeinschaft Musik führend beteiligt. Hier konnten ihre jahrzehntelangen Erfahrungen mit deutschem Liturgiegesang eingebracht werden; durch ihren Arbeitskreis für liturgische musikalische Fragen wurde gute Vorarbeit für das EGB geleistet, die sich in Denkschriften, Aufsätzen in der Zeitschrift "Musik und Altar" und vor allem auch in der direkten Mitarbeit in den EGB-Kommissionen niederschlug.
V
Im Auftrag der Hauptkommission wurde ich beauftragt, bei der von den großen deutschen Kirchen gegründeten Kommission zur Übersetzung der Psalmen aus dem Urtext mitzuwirken und dabei für eine gut singbare Textfassung zu sorgen. Das war eine sehr interessante und wichtige, aber auch sehr schwierige Aufgabe. Auch darüber wird im Redaktionsbericht, S. 297 ff. gehandelt.
Man stelle sich vor: Ich, der ich weder Theologe noch Fachmann für Altes Testament noch Hebräisch-Kenner bin, komme in einen Kreis hochkarätiger Spezialisten für diese Gebiete, der noch dazu schon mehrere Sitzungen hinter sich und eine vorläufige Übersetzung des ganzen Psalters vor sich hat. Der erste Eindruck nach meinem Erscheinen (Frankfurt/Main, Dezember 1967) war denn auch: Jetzt müssen wir wieder alles neu machen! Verständlicherweise war man davon gar nicht begeistert.
Mir gelang es jedoch, die Kommission allmählich davon zu überzeugen: Psalmen sind Lieder und erfüllen ihren Sinn in einem kirchlichen Gesangbuch nur, wenn sie gut und mühelos singbar sind (die Entscheidung der SK II für tenorale Gemeinde-Psalmodie war bereits gefallen). Die Frage der Singbarkeit ist z. B. bei Guardinis Übersetzung viel zu wenig berücksichtigt; außerdem hat er nicht aus dem Urtext übersetzt und zuviel Poesie eingebracht. Luthers Übersetzung ist hingegen trotz mancher Revision heute nur noch schwer verständlich und dem jetzt mit dem Psalter konfrontierten katholischen Christen nicht zuzumuten.
Ein wichtiges Detailproblem war, die bisher so häufigen nachklappenden Endungen am Zeilenschluß zu beseitigen. Hier nur ein einziges Beispiel. Psalm 90, Vers 3, heißt bei Guardini (red. Anm.: man beachte die Akzente ´ auf den Silben!):
Du heißest die Ménschen zum Stáube kehren;
dann sprichst Du: "Kommet nun néu, ihr Ménschenkinder!"
In beiden Zeilen liegt der letzte Hauptakzent auf der viertletzten Silbe. Das (scherzhafte) Musterwort dabei war "Reisetasche". Falls das Nachklappen vermieden wird, ergeben sich falsche Betonungen: ... zum Staube kéhren ... ihr MenschenkÃnder (=Reisetásche). Nach vielem Hin und Her, das im Redaktionsbericht zum GL S.313 ff. beschrieben ist, ergab sich als Endfassung im ökumenischen Psalter:
Du läßt die Menschen zurückkehren zum Stáub
und sprichst: "Kommt wÃeder, ihr Ménschen!"
Solche Änderungen mögen geringfügig erscheinen; für ein leicht zu vollziehendes Singen sind sie grundlegend. Im übrigen handelt es sich beim obigen Beispiel um einen ziemlich einfachen Fall. Davon, daß nicht erreicht wurde, alle Psalmen in allen Tönen singen zu können, wurde oben bereits gesprochen. Die Neuübersetzung stand überhaupt erst 1974 ganz zur Verfügung und konnte so erst im letzten Augenblick in das EGB eingearbeitet werden.
Interessant war die Erfahrung, daß es bei der Übersetzungsarbeit keine konfessionell bestimmten Kontroversen gab. Traten Divergenzen auf, so gingen sie in der Regel quer durch die Konfessionen, etwa Hebräisten/Theoretiker gegen Praktiker/Liturgiker/Musiker. Die evangelischen Teilnehmer, über eine lange Tradition deutschen Psalmensingens verfügend, hielten unsere "katholischen" Textierungsregeln für zu streng, beugten sich dann aber doch unseren Prinzipien, da ja das Psallieren dadurch nur erleichtert werden konnte. Eine bittere Enttäuschung ergab sich später: Die deutsche evangelische Kirche bleibt beim (revidierten) Luther-Psalter und übernimmt unsere ja paritätisch erarbeitete Neuübersetzung nur für ökumenische Gottesdienste. Auch von katholischer Seite kam übrigens später manche Kritik an dieser Übersetzung: vor allem, sie sei zu wenig poetisch. Das mag im Hinblick auf bisher verwendete Fassungen schon richtig sein. Fest steht hingegen: Es hat noch nie eine deutsche Übersetzung gegeben, die näher beim Urtext der Psalmen und zugleich besser singbar gewesen wäre!
VI
So waren die fast 10 Jahre der Vorbereitung und Erarbeitung des EGB/GL für mich ergebnis- und erlebnisreich; ich möchte sie nicht missen in meinem Leben. Aber auch manche negativen Erfahrungen sind bedenkenswert, so z. B. das Faktum, daß bis zum heutigen Tag die Frage der Honorierung der GL-Autoren nicht geklärt ist. Derzeit (1993/94) wird eine kleine Revision des GL vorbereitet, die sich aber nur auf Richtigstellung von Fehlern (insbesondere bei den Quellenangaben), Ausmerzung offenkundiger Druckfehler, einige sprachliche Umstellungen in Liedern und auf das Auswechseln einiger Gebetstexte erstreckt. So wird das GL nach bisher 20 Jahren erfolgreichen Daseins (an die 20 Millionen Exemplare wurden bisher verkauft) wohl noch längere Zeit gültig bleiben und das gottesdienstliche Leben unserer Gemeinden bestimmen.