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So war am Ende der Jahrestagung das Selbstportrait eines Autors betitelt, der sich wie kaum ein anderer Zeitgenosse gemüht hat, sich mit allen drei Medien übergreifend auseinanderzusetzen und ihnen - im Widerstand gegen die Verwischung von Multimedia - wieder neue Klärungen abzuringen.
Heinz-Albert Heindrichs hat aus der Auflösung aller Parameter, die mit Beginn der siebziger Jahre in allen Künsten ihren Höhepunkt erreichte, zunächst einmal die Konsequenz gezogen, nicht weiter zu schreiben und sein Handwerkszeug, die Notenschrift vollends zu zerstören Aber gerade die Zerstörung der Zeichen führte unvermutet weiter: aus den No-tationen, aus der Verweigerung der Notenzeichen entstanden im Laufe eines fünfzehnjährigen Prozesses Bilder, die über den Zustand heutiger Musik Aussagen machen, gerade indem sie diese selbst beschweigen. Heinz-Albert Heindrichs führte diesen Weg - den Sprung aus einem Ende in einen Anfang - anhand von etwa hundert Dia- und Originalbeispielen vor.
Am Beginn der neunziger Jahre hat der Bitter Verlag Recklinghausen die gesammelten Gedichte des Autors vorgelegt. Es sind elf Gedichtbände in zwei Büchern. Das „Frühbuch" zeigt in vier Stationen die Entwicklung von den sechziger zu den siebziger Jahren auf - das „siebenbuch" entfaltet darauf in sieben mal neunundvierzig Gedichten eine kosmische Erfahrung von sieben Existenz- und Erlebenskreisen: kompositorisch sind sie ein spiegelsymmetrischer Kosmos, dessen labyrinthische Anordnung den Leser zwar Übersteigt, im Detail aber erfa.hrbar wird. An den Gedichten machte Heindrichs einige Grundphänomene fest, die alle seine Arbeiten durchdringen: das Problem von offener und geschlossener Form, dahinter die Erfahrung, aus einem geschlossenen Kulturkreis ins Offene geschleudert zu werden - die Entstehung von Analogien und Symbolen durch Grenzerfahrung - das synästhetische Ineinandergreifen verschiedener Sinneserfahrungen, vor allem des Sehens und des Hörens - schließlich der Versuch, das Material durch alle Bemühungen hindurch aufzuheben, es verschwinden zu machen. Als Beispiel sei das Gedicht „Mit fünfzig Jahren" und seine Verklanglichung im "Sprechbuch" angeführt.
Mit fünfzig Jahren
die Mitte
gewonnen verloren
der Augenblick
stürzt
gelassen ins Immer
das Maßwerk
goldener Schnitte
verwächst
zum Delta
vor offenem Blau
die Mitte
gewonnen verloren
der Augenblick
stürzt
gelassen ins Immer
das Maßwerk
goldener Schnitte
verwächst
zum Delta
vor offenem Blau
Das Gedicht entstand in Padua - vor einer Reliefkarte von der Poebene: schnurgerade Alpenbäche stürzen in den großen Fluß, der sich vor dem Meer verzweigt - ein Bild für meine Lebenserfahrung.
Formal ist es eine Auseinandersetzung zwischen geschlossener und offener Form: ohne Überschrift liest sich das Gedicht spiegelsymmetrisch (2 + 3 + 3 + 2) - mit Überschrift als arithmetische Reihe des Goldenen Schnitts, ins Unendliche führend (1 + 2 + 3 + 5).
Die Klavierklänge interpretieren nicht, sondern sind wie die Ringfassung um einen Stein gelegt. Aber sie wachsen nach den gleichen Maßzahlen ins Offene: vom Einklang zum Fünfklang - von einem Klang zu fünf Klängen, allerdings zum Wort verschoben, sodaß der Plan rational verborgen bleibt.
Heinz-Albert Heindrichs hatte zum Erklären ausschließlich Gedichte ausgewählt, die mit Musik zu tun haben; aber er ließ ihnen Sequenzen von Gedichten folgen, die er nicht mehr erklären wollte, die er nun der Verknüpfungskraft des Hörens überließ.
Auf dem Hintergrund der Bild- und Spracherfahrungen gab es zuletzt einen direkten Zugang zur Musik. Heindrichs hat sich seit den siebziger Jahren vor allem auf die Vertonung zeitgenössischer deutscher Lyrik konzentriert - und er führte daraus folgende Beispiele vor:
a) aus dem "Sprechbuch" nach eigenen Gedichten;
b) "25 Formeln" nach Günter Eich - aus dem II. Liederbuch;
c) "Wandloser Raum" nach Ernst Meister aus dem II. Liederbuch;
d) "Huhediblu" nach. Paul Celan - aus dem III. Liederbuch;
e) "Glühende Rätsel" nach Nelly Sachs - aus dem IV. Liederbuch;
f) "Rufe" nach Jesse Thoor - aus dem V. Liederbuch.
Vertont hat Heindrichs solche Gedichte und Dichter, die - an der Grenze der Sprache und des Mediums - nicht lyrische Stimmung, sondern Existenzerfahrung zum Ausdruck bringen. Dabei setzt er Sprache rhythmisch und mikromelodisch vor allem dadurch frei, indem er auf den scheinbaren Hauptparameter des "Kunstliedes" - auf die Harmonik - verzichtet. Heindrichs hat erst wieder angefangen, Gedichte zu vertonen, nachdem er die Auflösungsstadien dieser Gattung - von der Wiener Schule bis zur experimentellen Sprachvertonung - in sich überwunden hatte: indem sie den Zeitgeist Überspringen, haben sie die Geschichte der Gattung im Rücken. In jedem Zyklus entsteht vor allem eine Art Portrait des Dichters, das aber, bei gleichem musikalischen Material in einem Liederbuch, zu anderen Portraits in Bezug gesetzt wird und sich dadurch öffnet: so bilden die rund fünfundzwanzig Zyklen eine ähnliche Konstellation wie die Gedichtzyklen des "Siebenbuchs".
"Bild, Sprache, Musik" - ihr Zusammenwirken, ihre Entgrenzung, das Aufheben der einen Wahrnehmung durch die andere - Heinz-Albert Heindrichs machte deutlich, daß seine Anstrengung, Analogien zwischen den Wahrnehmungsweisen zu bilden, nicht nur kunstvoll, sondern elementar gerichtet ist: sie zielt in einem urtümlichen Sinne auf die Freisetzung spiritueller Vorstellungen.
Heinz-Albert Heindrichs
geboren 1930 in Brühl;
studierte Deutsch und Musik in Bonn und Köln, war Theaterkapellmeister in Essen und Wuppertal, freier Bühnen- und Hörspielkomponist, unterrichtete Musiktheorie am Konservatorium Dortmund, Schauspielmusik an der Folkwang-Hochschule;
ist seit 1966 Dozent, seit 1971 Professor und war 1975 - 79 Dekan des Fachbereichs „Kunst, Design, Musik" an der Universität Essen - GHS; seit 1983 Professur für "Musik und ihre Komposition";
lebt in Gelsenkirchen.
No-tationen: aus Notenschrift entwickelte Zeichnungen;
Musikaquarelle: Durchdringung von No-tation und Aquarell;
Palimpseste: handgeschöpfte Papiere - mehrfach eingefärbt, ausgewaschen, abgekratzt (griech. psestos) und überschrieben - mit dem Ziel, aus zerstörten Positionen eine neue Einheit zu gewinnen.
Thema: Grenzerfahrung zwischen den Medien - zwischen Hören und Sehen - Zeit und Nichtzeit - Verdichtung und Aufhebung.
Ausstellungen
Seit 1978 circa 25 Einzelausstellungen (u. a. Galerie René/Mayer, Düsseldorf, 1978 - Wittener Tage für neue Kammermusik, 1981 - Musiktheater im Revier, 1980/85/90 - Museum Folkwang, Essen, 1982/86 - Museum Gelsenkirchen, 1987/91)
zahlreiche Beteiligungen (u. a. Kunstszene Rhein-Ruhr, Essen Osthaus Museum, Hagen - Biennale Ruhr, Schloß Oberhausen Internationale Musikalische Grafik, Museum Würzburg - Hindemith Institut, Frankfurt)
Gedichte
1978 - 88 fünf Gedichtbände
- seit 1991 'Gesammelte Gedichte' im Bitter Verlag Recklinghausen:
- 'Siebenbuch', Bd. II, 1991 (7 x 49 Gedichte)
- 'Frühbuch', Bd. I, 1992 (4 x 49 Gedichte)
- 'Spätbuch', Bd. III, i. Vorb.
Kompositionen
Kammermusik, Orchesterwerke, vor allem Vokalmusik (Liederbücher I - IX nach zeitgenössischen Dichtern: Aichinger, Bachmann, Celan, Eich, Goll, Meister u. a.)
Kölner Kompositionspreis 1954
Brüsseler Kammermusikpreis 1958