Ein Volksmärchen - was ist das?


Walter Scherf


Eine hinreichende Antwort auf die Elementarfrage zu finden, was ist ein Volksmärchen? bieten sich vier Wege an: l. sich einen Überblick zu verschaffen, wie das Märchen auf uns gekommen ist, 2. was die unverwechselbaren Kennzeichen seiner Bauform sind, 3. welche Themen das Märchen ausspielt, und 4. wie man den Miterlebensvorgang erfassen kann und welche Funktion es in unserem Leben erfüllt.

Bestbewährtes Handwerkszeug ist das von Max Lüthi in der Sammlung Metzler (Realien zur Literatur) herausgegebene Bändchen „Märchen" (8. Auflage 1990), das nunmehr von Heinz Rölleke fortgeführt wird. Zu einem wahren Lehrbuch ist Bengt Holbeks „Interpretation of fairy tales" geworden (Helsinki j1987), das in seinem zweiten Teil „Earlier interpretations" einen vortrefflichen Überblick der Schulen und Lehrmeinungen und ihrer Entwicklung gibt. Zuverlässige Grundlagen und Einsicht in die weltweiten geschichtlichen Zusammenhänge vermittelt das Standardwerk von Lutz Röhrich: "Märchen und Wirklichkeit" (4. Aufl. Wiesbaden 1979). Aufschlußreich als sozialgeschichtlicher Entwurf ist Vladimir Propp: „Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens" (München 1987). Bis zum Buchstaben H liegt inzwischen auch die von Kurt Ranke begründete „Enzyklopädie des Märchens" vor (Berlin, New York 1977 ff.). Sie steht in jeder größeren Bibliothek zum Nachschlagen zur Verfügung und gibt erschöpfend Auskunft Über den Wissensstand, sei es über einen Erzähltyp oder ein Motiv, über eine Bauform oder eine Quelle. Mithilfe dieser Werke kann sich jeder reichstes Grundlagenmaterial zur Antwort auf die vier Fragen nach der Überlieferung verschaffen, der Thematik, der Form und der Rezeption. Das eigene „Lexikon der Zaubermärchen" (Stuttgart 1982, die wesentlich erweiterte Neuausgabe ist in Arbeit) dient vor allem der Information über Thematik und Motivik der wichtigeren Erzähltypen und ihre allgemeiner bekannten Buchmärchen-Fassungen. Methodisch neu ist der Ansatz, die Strukturanalyse der Märchentexte mit der Miterlebensanalyse auf der Grundlage tiefenpsychologischer Konflikteinsicht zu verbinden, also dem Gedanken zu folgen, daß Bauform und Zuhör-Erwartung einander wechselseitig bedingen. Diese Methode ist, unabhängig voneinander, durch Bengt Holbek (Interpretation of fairy tales, 1987) und Walter Scherf (Die Herausforderung des Dämons, ebenfalls 1987) entwickelt worden. Sie stützt sich, und das ist wesentlich, auf breites internationales Variantenmaterial zum jeweils untersuchten Erzähltyp. Das unterscheidet sie von einseitig tiefenpsychologisch orientierten Untersuchungen. Hier bietet sich die von Wilhelm Laiblin 1975 in Darmstadt herausgegebene Antologie „Märchenforschung und Tiefenpsychologie" als Studienmaterial an (3. Auflage 1986), vor allem aber Katalin Horns Übersicht in dem von Hans-Jörg Uther 1990 in München herausgegebenen Sammelband „Märchen in unserer Zeit", S. 159-169. Bisher nur maschinenschriftlich vervielfältigt liegt eine sogenannte Dissertation B der Humboldt-Universität Berlin von Kristin Wadetzky vor, eine vorbildliche und inspirierende Arbeit. Die Autorin setzt die Verbindung der beiden methodischen Ansätze als Theaterwissenschaftlerin ein, um die unbewußten Miterlebensvorgänge der Kinder nachprüfbar zu erfassen, also empirisch und nicht spekulativ. Als Grundlagen der Beziehungskonfliktanalyse wurde in den Arbeitsgruppen auf die Schriften von Melanie Klein, D.W. Winnicott und Jochen Stork hingewiesen - als Grundlagen des Verständnisses der „Märchenbiologie" und der Feldforschung in unserer Zeit auf die vielfältigen, praxisnahen Veröffentlichungen von Felix Karlinger.

In den beiden Arbeitsgruppen wurden drei Zaubermärchentexte unterschiedlicher Konflikt-Thematik analysiert: das Kindermärchen "Hänsel und Gretel" aus der Grimmschen Sammlung, das ebenfalls bei den Brüdern Grimm stehende Märchen von der "Gänsemagd" und das aus Holsteins mündlicher Überlieferung stammende, von Wilhelm Wisser niederdeutsch veröffentlichte Zaubermärchen vom Glasbergritt: "Simson, tu dich auf!" - allerdings in einer Übertragung ins Hochdeutsche. Wer eine zuverlässige und vollständige Ausgabe von Jacob und Wilhelm Grimms "Kinder- und Hausmärchen" zur Hand haben möchte (und das sollte eigentlich jeder Märchenfreund haben), der schafft sich am besten die von Heinz Rölleke herausgegebene und mit Anmerkungen versehene, auf der Ausgabe letzter Hand von 1857 beruhende, dreibändig beim Verlag Reclam erschienene Gesamtausgabe an. Der Wissersche, ins Hochdeutsche übertragene Text hingegen steht in einer von Elisabeth Scherf besorgten und von Rainer Michl illustrierten Auslese der besterzählten Märchen aus den wichtigsten Sammlungen des deutschen Sprachgebietes, die zu Unrecht im Schatten der Grimms stehen - zumal sie allerlei Erzähltypen bringen, die bei den Brüdern Grimm nicht zu finden sind oder bei ihnen nicht so gut erzählt werden: "Der Wunderbaum" (Bayreuth 1991).

Die Auswahl brachte drei Lehrstücke, von denen das erste weltweit in unzähligen Fassungen verbreitet ist, das zweite aber, ein Glanzstück Wilhelm Grimmscher Stilisierung, wesentlich seltener vorkommt (es liegt aber auch der altfranzösischen Bertasage zugrunde, oder die Sage dem Märchen). Das niederdeutsche Beispiel hinwiederum steht in farbenreichem internationalen Zusammenhang mit auffällig vielen Fassungen aus skandinavischen, baltischen, slavischen und balkanischen Ländern. Ausgewählt wurden die drei Stücke freilich wegen ihrer Thematik. Hänsel und Gretel spielt einen höchst komplizierten kindlichen Ablösungskonflikt aus, kompliziert nicht nur der kindlichen Stellung zwischen den Eltern, sondern auch der Reifungsprozesse halber in den geschwisterlichen Beziehungen. Das Märchen von der Gänsemagd dagegen thematisiert die Übergewichtige Mutter-Tochter-Beziehung, die dem Mädchen gleichzeitig die Selbstfindung erschwert, die Selbstfindung aber auch fördert - wozu auch die wiederentdeckte verinnerlichte Tochter-Vater-Beziehung beiträgt. Drittes Thema aber ist eine höchst humorvoll ausgespielte Sohn-Vater-Auseinandersetzung. Was zu zeigen war: Das Märchen hat seinen Sitz im Leben, weil es uns einfängt und uns unbewußt in die Dramaturgie der Reifungsprozesse seiner Identifikationsgestalten einspannt und damit zum ständigen Verarbeitungsanstoß unserer eigenen Beziehungskonflikte aus Kindheit und Adoleszenz wird.

Diese Zusammenhänge legen folgende Definition des eigentlichen Volksmärchens (nicht der Fabeln und Verhaltensbelehrungen, nicht der Sagen und Schwänke) nahe: Das eigentliche Volksmärchen ist eine Erzählung, die sich in einfacher Handlungsfolge entwickelt, die eingangs in äußerer Wirklichkeit mit einer offenen Konflikt-Figuration beginnt, damit den Zuhörer zum projektiven Mitspiel veranlaßt und mit zielstrebiger Dramaturgie den sich selbst in seiner individuellen Konfliktlage Einbringenden durch Ablösungs- und Reifungsprozesse elementarer Beziehungskonflikte zu sich selbst und in der voll ausgebauten, zweiteiligen Form zum rückhaltlosen Einsatz für den geliebten Anderen führt, Selbst- und Du-Erkennung also ineinander verschränkt. Die eigentliche Zaubermärchen-Handlung, von Eingangs- und Ziellage in äußerer Wirklichkeit umfaßt, spielt sich in der fantasmatischen Welt der individuellen inneren Wirklichkeit des jeweils Zuhörenden oder Lesenden ab.

Editorischer Hinweis:
Die Quellenangaben, auf die im Text Bezug genommen wird, fehlen auch in der gedruckten Ausgabe!