Auf ein Neues – zum zweiten Mal Chor- und Orchesterwoche Wies unter der Leitung von Michael Witt. Ein Mammutprogramm – das Hauptwerk: Mendelssohn „Lobgesang“, dann Haßler „Missa octo vocum“, Hans Werner Zimmermann „Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens“ und last not least die Bachkantate zur Einführung eines neuen Stadtoberhauptes.
Gerlinde, willst du dir das wirklich antun in deinem Urlaub?
Ich fragte mich das ganz ernsthaft, denn Erholung, wenigstens im Sinne von Ausspannen, Faulenzen, Lesenkönnen, das war da nicht angesagt. Und das hatte ich eigentlich bitter nötig. Aber zum Zeitpunkt der Anmeldung war das noch nicht so ersichtlich. Damals freute ich mich auf das musikalische Erlebnis. Als es dann soweit war, da kroch die Hitzewelle über Deutschland, jeder lechzte nach Erfrischung und Abkühlung. Also versuchen wir es mal mit der Witt-Woche. Eine geistige Erholung und Auffrischung wird es in jedem Fall sein. Und das war es dann auch.
Die so schöne gelegene Volkshochschule in direkter Wieskirchennähe läßt mit ihrem Komfort an Unterkunft und Verpflegung wenig zu wünschen übrig.
Das Wetter hatte auch ein Einsehen mit uns schwerarbeitenden Chorsängern und Instrumentalisten. Es zeigte sich uns einigermaßen gnädig. Außer am ersten Abend, wo Agnes Kraemer nur ein gekürztes Abendtanzprogramm laufen ließ – wegen der Hitze. Aber dann konnte eigentlich alles programmmäßig ablaufen; es gab sogar Regen und Donnerwetter von oben.
Die Proben für den „Lobgesang“, weiß Gott ohnehin eine schweißtreibende Angelegenheit, ließen uns allerdings stöhnen, die Anforderungen an die Stimme waren manchen Abend wirklich atemraubend. Vor allem, da wir so unter Zeitdruck standen. Nur vier volle Probentage bis zur Aufführung, das war wahrlich eine Herausforderung. Und dazu noch die anderen Werke.
Als wir am Sonntag nach dem Gottesdienst in der Wies mit der Haßlermesse das Tischgebet sprachen, meinte der Chorleiter danach nur lakonisch: „Jetzt dürfen Sie sich bekleckern, vorhin haben sie sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert.“ Von solchen Worten darf man sich auf einer Wies-Woche mit Michael Witt nicht die Laune verderben lassen. Auch nicht davon, daß er der (sicher ganz persönlichen) Meinung war, wir könnten ein bayerisches Buffet schneller aufessen, als uns doppelchörig aufzustellen. Letztere Unfähigkeit ist nur darauf zurückzuführen, daß es offensichtlich nicht eindeutig ist – und vom Chorleiter auch nicht deutlich festgelegt wird – wer im 1. und wer im 2. Chor singt. Wie ich mittlerweile mitbekommen habe, wird von ihm einfach erwartet, die Mündigkeit der Chormitglieder voraussetzend, daß das jeder selber mit der Einsicht in die Notwendigkeit entscheidet – und zwar nicht erst dann, wenn er um doppelchörige Aufstellung bittet, sondern schon lange im Vorfeld, eine durchaus demokratische Einstellung, die aber auch entscheidungsfreudige und mitdenkende Chorsänger voraussetzt, für die Hedwigschor-Sänger unbedingt anzunehmen, nicht aber für so eine gemischte Truppe, wie sie auf der Wies nun einmal ist. Aber – aller Widrigkeiten zum Trotz – as Konzert steht, es gelingt allen Mitwirkenden, die Zuhörer in Bann zu schlagen, Sabine Zimmermann hat wieder alle bezaubert, mir hat aber auch der Tenor, Jens Hofereiter sehr gut gefallen. In den Proben überraschte er uns alle dadurch, daß er – die Hitze hat auch ihm wohl nicht besonders zugesagt – einfach oktavierte. Aber in der Aufführung fand ich seine inhaltlich so gut abgestimmte Interpretation besonders gelungen.
Ja – und dann der Abschlußabend. Es gab natürlich wieder Darbietungen einiger Arbeitskreise. Die Marionettenaufführung war bezaubernd. Schade, daß man die Wortwechsel der kleinen Schauspieler nicht immer verstehen konnte, aber man konnte sich den Inhalt zusammenreimen. Die Tanzgruppe hatte nicht, wie beabsichtigt, wegen wechselnder Teilnehmer zum Vorjahr und fehlender Kostbarkeiten (sprich: Männer), die höfischen Tänze vollendet, sondern eine neue (es sollte eigentlich einfacher sein) „Stuhltanz“ genannte rhythmische Szene eingeübt – wie immer mit viel Vergnügen, aber auch vielen Schweißtropfen. Schon die Wahl des benutzten und vorzuzeigenden, anzuflehenden, anzuklagenden oder einfach nur zu präsentierenden Stuhls ließ erkennen, daß diese Gruppe entschieden zu individualistisch war. Dazu kamen Gedächtnislücken (wann proben wir, wann sehen wir uns an, wann sehen wir weg, wann lümmeln wir auf dem Stuhl, wann umgehen wir ihn) und Verständnisschwierigkeiten (nicht zu reden von der Tücke des Objekts, dem eigenwilligen Musikrecorder) – all dies Dinge stellten an Agnes Kraemer ganz besondere Anforderungen. Besonders hervorzuheben sind die klassischen Dialoge über „rechts“ und „links“, was jeweils auf die Sicht des Betroffenen ankommt. Stehe ich vor der Gruppe mit dem Gesicht zu ihr, dann ist das, was für mich rechts ist, für die anderen natürlich links. Aber das ist nun einmal nicht einfach und mitunter zeitraubend und geradezu lähmend. Man glaubt es kaum, aber das kann eine abendfüllende Diskussionen auslösen. Die Zuschauer beklatschten jedenfalls unsere Darbietung, was uns aber nicht davon abhalten konnte, von einer Wiederholung abzusehen. Die anschließenden Sketche der Instrumentalisten und der Jugend waren wie immer einfallsreich und erheiterten alle, ebenso Agnes Kraemers Auftritt als „Turteltaube“, die wir ja ausführlich in der Bachkantate besungen hatten (die armen Turteltauben haben alle zusammen bei Bach nur eine Seele). Beim anschließenden Nachtisch – herrlich süß und sooo lecker – kam schon Abschiedsstimmung auf.
Am nächsten Morgen hieß es dann wieder: Auf Wiedersehen im nächsten Jahr – hoffentlich, auch allen Sparmaßnahmen und sonstigen Widrigkeiten zum Trotz.
Gerlinde Redzich